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Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigenthum. Leipzig, 1845.

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"die tiefe Kluft, welche ihn von der Menge scheidet, aufheben".
Von denen, welche "die unteren Volksklassen heben wollen",
unterscheidet er sich dadurch, daß er nicht bloß diese, sondern
auch sich selbst aus der "Verstimmung" erlösen will.

Aber allerdings trügt ihn auch sein Bewußtsein nicht,
wenn er die Masse für den "natürlichen Gegner der Theorie"
hält und voraussieht, daß, "je mehr sich diese Theorie entwickeln
wird, um so mehr sie die Masse zu einer compacten machen
wird". Denn der Kritiker kann mit seiner Voraussetzung,
dem Menschen, die Masse nicht aufklären noch befriedigen. Ist
sie, gegenüber dem Bürgerthum, nur "untere Volksklasse", eine
politisch unbedeutende Masse, so muß sie noch mehr gegenüber
"dem Menschen" eine bloße "Masse", eine menschlich unbe¬
deutende, ja eine unmenschliche Masse oder eine Menge von
Unmenschen sein.

Der Kritiker räumt mit allem Menschlichen auf, und von
der Voraussetzung ausgehend, daß das Menschliche das Wahre
sei, arbeitet er sich selbst entgegen, indem er dasselbe überall,
wo es bisher gefunden wurde, bestreitet. Er beweist nur, daß
das Menschliche nirgends als in seinem Kopfe, das Unmensch¬
liche aber überall zu finden sei. Das Unmenschliche ist das Wirk¬
liche, das allerwärts Vorhandene, und der Kritiker spricht durch
den Beweis, daß es "nicht menschlich" sei, nur deutlich den
tautologischen Satz aus, daß es eben, das Unmenschliche sei.

Wie aber, wenn das Unmenschliche, indem es entschlosse¬
nen Muthes sich selbst den Rücken kehrte, auch von dem be¬
unruhigenden Kritiker sich abwendete und ihn, von seiner Ein¬
rede unberührt und ungetroffen, stehen ließe? "Du nennst Mich
das Unmenschliche, könnte es zu ihm sagen, und Ich bin es
wirklich -- für Dich; aber Ich bin es nur, weil Du Mich

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„die tiefe Kluft, welche ihn von der Menge ſcheidet, aufheben“.
Von denen, welche „die unteren Volksklaſſen heben wollen“,
unterſcheidet er ſich dadurch, daß er nicht bloß dieſe, ſondern
auch ſich ſelbſt aus der „Verſtimmung“ erlöſen will.

Aber allerdings trügt ihn auch ſein Bewußtſein nicht,
wenn er die Maſſe für den „natürlichen Gegner der Theorie“
hält und vorausſieht, daß, „je mehr ſich dieſe Theorie entwickeln
wird, um ſo mehr ſie die Maſſe zu einer compacten machen
wird“. Denn der Kritiker kann mit ſeiner Vorausſetzung,
dem Menſchen, die Maſſe nicht aufklären noch befriedigen. Iſt
ſie, gegenüber dem Bürgerthum, nur „untere Volksklaſſe“, eine
politiſch unbedeutende Maſſe, ſo muß ſie noch mehr gegenüber
„dem Menſchen“ eine bloße „Maſſe“, eine menſchlich unbe¬
deutende, ja eine unmenſchliche Maſſe oder eine Menge von
Unmenſchen ſein.

Der Kritiker räumt mit allem Menſchlichen auf, und von
der Vorausſetzung ausgehend, daß das Menſchliche das Wahre
ſei, arbeitet er ſich ſelbſt entgegen, indem er daſſelbe überall,
wo es bisher gefunden wurde, beſtreitet. Er beweiſt nur, daß
das Menſchliche nirgends als in ſeinem Kopfe, das Unmenſch¬
liche aber überall zu finden ſei. Das Unmenſchliche iſt das Wirk¬
liche, das allerwärts Vorhandene, und der Kritiker ſpricht durch
den Beweis, daß es „nicht menſchlich“ ſei, nur deutlich den
tautologiſchen Satz aus, daß es eben, das Unmenſchliche ſei.

Wie aber, wenn das Unmenſchliche, indem es entſchloſſe¬
nen Muthes ſich ſelbſt den Rücken kehrte, auch von dem be¬
unruhigenden Kritiker ſich abwendete und ihn, von ſeiner Ein¬
rede unberührt und ungetroffen, ſtehen ließe? „Du nennſt Mich
das Unmenſchliche, könnte es zu ihm ſagen, und Ich bin es
wirklich — für Dich; aber Ich bin es nur, weil Du Mich

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[193/0201] „die tiefe Kluft, welche ihn von der Menge ſcheidet, aufheben“. Von denen, welche „die unteren Volksklaſſen heben wollen“, unterſcheidet er ſich dadurch, daß er nicht bloß dieſe, ſondern auch ſich ſelbſt aus der „Verſtimmung“ erlöſen will. Aber allerdings trügt ihn auch ſein Bewußtſein nicht, wenn er die Maſſe für den „natürlichen Gegner der Theorie“ hält und vorausſieht, daß, „je mehr ſich dieſe Theorie entwickeln wird, um ſo mehr ſie die Maſſe zu einer compacten machen wird“. Denn der Kritiker kann mit ſeiner Vorausſetzung, dem Menſchen, die Maſſe nicht aufklären noch befriedigen. Iſt ſie, gegenüber dem Bürgerthum, nur „untere Volksklaſſe“, eine politiſch unbedeutende Maſſe, ſo muß ſie noch mehr gegenüber „dem Menſchen“ eine bloße „Maſſe“, eine menſchlich unbe¬ deutende, ja eine unmenſchliche Maſſe oder eine Menge von Unmenſchen ſein. Der Kritiker räumt mit allem Menſchlichen auf, und von der Vorausſetzung ausgehend, daß das Menſchliche das Wahre ſei, arbeitet er ſich ſelbſt entgegen, indem er daſſelbe überall, wo es bisher gefunden wurde, beſtreitet. Er beweiſt nur, daß das Menſchliche nirgends als in ſeinem Kopfe, das Unmenſch¬ liche aber überall zu finden ſei. Das Unmenſchliche iſt das Wirk¬ liche, das allerwärts Vorhandene, und der Kritiker ſpricht durch den Beweis, daß es „nicht menſchlich“ ſei, nur deutlich den tautologiſchen Satz aus, daß es eben, das Unmenſchliche ſei. Wie aber, wenn das Unmenſchliche, indem es entſchloſſe¬ nen Muthes ſich ſelbſt den Rücken kehrte, auch von dem be¬ unruhigenden Kritiker ſich abwendete und ihn, von ſeiner Ein¬ rede unberührt und ungetroffen, ſtehen ließe? „Du nennſt Mich das Unmenſchliche, könnte es zu ihm ſagen, und Ich bin es wirklich — für Dich; aber Ich bin es nur, weil Du Mich 13

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Zitationshilfe: Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigenthum. Leipzig, 1845, S. 193. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stirner_einzige_1845/201>, abgerufen am 29.03.2024.