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Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigenthum. Leipzig, 1845.

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auch geistige Vagabonden, denen der angestammte Wohnsitz
ihrer Väter zu eng und drückend vorkommt, als daß sie ferner
mit dem beschränkten Raume sich begnügen möchten: statt sich
in den Schranken einer gemäßigten Denkungsart zu halten
und für unantastbare Wahrheit zu nehmen, was Tausenden
Trost und Beruhigung gewährt, überspringen sie alle Grenzen
des Althergebrachten und extravagiren mit ihrer frechen Kritik
und ungezähmten Zweifelsucht, diese extravaganten Vagabonden.
Sie bilden die Classe der Unstäten, Ruhelosen, Veränderlichen,
d. h. der Proletarier, und heißen, wenn sie ihr unseßhaftes
Wesen laut werden lassen, "unruhige Köpfe".

Solch weiten Sinn hat das sogenannte Proletariat oder
der Pauperismus. Wie sehr würde man irren, wenn man
dem Bürgerthum das Verlangen zutraute, die Armuth (Pau¬
perismus) nach besten Kräften zu beseitigen. Im Gegentheil
hilft sich der gute Bürger mit der unvergleichlich tröstlichen
Ueberzeugung, daß "die Güter des Glückes nun einmal un¬
gleich vertheilt seien und immer so bleiben werden -- nach
Gottes weisem Rathschlusse". Die Armuth, welche ihn auf
allen Gassen umgiebt, stört den wahren Bürger nicht weiter,
als daß er höchstens sich mit ihr durch ein hingeworfenes
Almosen abfindet, oder einem "ehrlichen und brauchbaren"
Burschen Arbeit und Nahrung verschafft. Desto mehr aber
fühlt er seinen ruhigen Genuß getrübt durch die neuerungs¬
süchtige
und unzufriedene Armuth, durch jene Armen,
welche sich nicht mehr stille verhalten und dulden, sondern zu
extravagiren anfangen und unruhig werden. Sperrt den
Vagabonden ein, steckt den Unruhstifter ins dunkelste Verließ!
Er will im Staate "Mißvergnügen erregen und gegen bestehende
Verordnungen aufreizen" -- steiniget, steiniget ihn!

auch geiſtige Vagabonden, denen der angeſtammte Wohnſitz
ihrer Väter zu eng und drückend vorkommt, als daß ſie ferner
mit dem beſchränkten Raume ſich begnügen möchten: ſtatt ſich
in den Schranken einer gemäßigten Denkungsart zu halten
und für unantaſtbare Wahrheit zu nehmen, was Tauſenden
Troſt und Beruhigung gewährt, überſpringen ſie alle Grenzen
des Althergebrachten und extravagiren mit ihrer frechen Kritik
und ungezähmten Zweifelſucht, dieſe extravaganten Vagabonden.
Sie bilden die Claſſe der Unſtäten, Ruheloſen, Veränderlichen,
d. h. der Proletarier, und heißen, wenn ſie ihr unſeßhaftes
Weſen laut werden laſſen, „unruhige Köpfe“.

Solch weiten Sinn hat das ſogenannte Proletariat oder
der Pauperismus. Wie ſehr würde man irren, wenn man
dem Bürgerthum das Verlangen zutraute, die Armuth (Pau¬
perismus) nach beſten Kräften zu beſeitigen. Im Gegentheil
hilft ſich der gute Bürger mit der unvergleichlich tröſtlichen
Ueberzeugung, daß „die Güter des Glückes nun einmal un¬
gleich vertheilt ſeien und immer ſo bleiben werden — nach
Gottes weiſem Rathſchluſſe“. Die Armuth, welche ihn auf
allen Gaſſen umgiebt, ſtört den wahren Bürger nicht weiter,
als daß er höchſtens ſich mit ihr durch ein hingeworfenes
Almoſen abfindet, oder einem „ehrlichen und brauchbaren“
Burſchen Arbeit und Nahrung verſchafft. Deſto mehr aber
fühlt er ſeinen ruhigen Genuß getrübt durch die neuerungs¬
ſüchtige
und unzufriedene Armuth, durch jene Armen,
welche ſich nicht mehr ſtille verhalten und dulden, ſondern zu
extravagiren anfangen und unruhig werden. Sperrt den
Vagabonden ein, ſteckt den Unruhſtifter ins dunkelſte Verließ!
Er will im Staate „Mißvergnügen erregen und gegen beſtehende
Verordnungen aufreizen“ — ſteiniget, ſteiniget ihn!

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[149/0157] auch geiſtige Vagabonden, denen der angeſtammte Wohnſitz ihrer Väter zu eng und drückend vorkommt, als daß ſie ferner mit dem beſchränkten Raume ſich begnügen möchten: ſtatt ſich in den Schranken einer gemäßigten Denkungsart zu halten und für unantaſtbare Wahrheit zu nehmen, was Tauſenden Troſt und Beruhigung gewährt, überſpringen ſie alle Grenzen des Althergebrachten und extravagiren mit ihrer frechen Kritik und ungezähmten Zweifelſucht, dieſe extravaganten Vagabonden. Sie bilden die Claſſe der Unſtäten, Ruheloſen, Veränderlichen, d. h. der Proletarier, und heißen, wenn ſie ihr unſeßhaftes Weſen laut werden laſſen, „unruhige Köpfe“. Solch weiten Sinn hat das ſogenannte Proletariat oder der Pauperismus. Wie ſehr würde man irren, wenn man dem Bürgerthum das Verlangen zutraute, die Armuth (Pau¬ perismus) nach beſten Kräften zu beſeitigen. Im Gegentheil hilft ſich der gute Bürger mit der unvergleichlich tröſtlichen Ueberzeugung, daß „die Güter des Glückes nun einmal un¬ gleich vertheilt ſeien und immer ſo bleiben werden — nach Gottes weiſem Rathſchluſſe“. Die Armuth, welche ihn auf allen Gaſſen umgiebt, ſtört den wahren Bürger nicht weiter, als daß er höchſtens ſich mit ihr durch ein hingeworfenes Almoſen abfindet, oder einem „ehrlichen und brauchbaren“ Burſchen Arbeit und Nahrung verſchafft. Deſto mehr aber fühlt er ſeinen ruhigen Genuß getrübt durch die neuerungs¬ ſüchtige und unzufriedene Armuth, durch jene Armen, welche ſich nicht mehr ſtille verhalten und dulden, ſondern zu extravagiren anfangen und unruhig werden. Sperrt den Vagabonden ein, ſteckt den Unruhſtifter ins dunkelſte Verließ! Er will im Staate „Mißvergnügen erregen und gegen beſtehende Verordnungen aufreizen“ — ſteiniget, ſteiniget ihn!

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Zitationshilfe: Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigenthum. Leipzig, 1845, S. 149. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stirner_einzige_1845/157>, abgerufen am 29.03.2024.