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Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigenthum. Leipzig, 1845.

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sich nur um so gesetzlicher zu sein, je rationalistischer man
das vorige mangelhafte Gesetz abschaffte, um dem "Geiste des
Gesetzes" zu huldigen. In alle dem hatten nur die Objecte
eine Umgestaltung erlitten, waren aber in ihrer Uebermacht
und Oberhoheit verblieben; kurz, man steckte noch in Gehorsam
und Besessenheit, lebte in der Reflexion, und hatte einen
Gegenstand, auf welchen man reflectirte, den man respectirte,
und vor dem man Ehrfurcht und Furcht empfand. Man hatte
nichts anderes gethan, als daß man die Dinge in Vorstel¬
lungen
von den Dingen, in Gedanken und Begriffe verwan¬
delte, und die Abhängigkeit um so inniger und unauflöslicher
wurde. So hält es z. B. nicht schwer, von den Geboten der
Aeltern sich zu emancipiren, oder den Ermahnungen des On¬
kels und der Tante, den Bitten des Bruders und der Schwe¬
ster sich zu entziehen; allein der aufgekündigte Gehorsam fährt
einem leicht ins Gewissen, und je weniger man auch den ein¬
zelnen Zumuthungen nachgiebt, weil man sie rationalistisch
aus eigener Vernunft für unvernünftig erkennt, desto gewissen¬
hafter hält man die Pietät, die Familienliebe fest, und vergiebt
sich um so schwerer eine Versündigung gegen die Vorstel¬
lung
, welche man von der Familienliebe und der Pietätspflicht
gefaßt hat. Von der Abhängigkeit gegen die existirende Fa¬
milie erlößt, fällt man in die bindendere Abhängigkeit von dem
Familienbegriff: man wird vom Familiengeiste beherrscht. Die
aus Hans und Grete u. s. w. bestehende Familie, deren Herr¬
schaft machtlos geworden, ist nur verinnerlicht, indem sie als
"Familie" überhaupt übrig bleibt, auf welche man eben nur an¬
wendet den alten Spruch: Man muß Gott mehr gehorchen als
dem Menschen, dessen Bedeutung hier diese ist: Ich kann zwar
Euren unsinnigen Anforderungen Mich nicht fügen, aber als

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ſich nur um ſo geſetzlicher zu ſein, je rationaliſtiſcher man
das vorige mangelhafte Geſetz abſchaffte, um dem „Geiſte des
Geſetzes“ zu huldigen. In alle dem hatten nur die Objecte
eine Umgeſtaltung erlitten, waren aber in ihrer Uebermacht
und Oberhoheit verblieben; kurz, man ſteckte noch in Gehorſam
und Beſeſſenheit, lebte in der Reflexion, und hatte einen
Gegenſtand, auf welchen man reflectirte, den man reſpectirte,
und vor dem man Ehrfurcht und Furcht empfand. Man hatte
nichts anderes gethan, als daß man die Dinge in Vorſtel¬
lungen
von den Dingen, in Gedanken und Begriffe verwan¬
delte, und die Abhängigkeit um ſo inniger und unauflöslicher
wurde. So hält es z. B. nicht ſchwer, von den Geboten der
Aeltern ſich zu emancipiren, oder den Ermahnungen des On¬
kels und der Tante, den Bitten des Bruders und der Schwe¬
ſter ſich zu entziehen; allein der aufgekündigte Gehorſam fährt
einem leicht ins Gewiſſen, und je weniger man auch den ein¬
zelnen Zumuthungen nachgiebt, weil man ſie rationaliſtiſch
aus eigener Vernunft für unvernünftig erkennt, deſto gewiſſen¬
hafter hält man die Pietät, die Familienliebe feſt, und vergiebt
ſich um ſo ſchwerer eine Verſündigung gegen die Vorſtel¬
lung
, welche man von der Familienliebe und der Pietätspflicht
gefaßt hat. Von der Abhängigkeit gegen die exiſtirende Fa¬
milie erlößt, fällt man in die bindendere Abhängigkeit von dem
Familienbegriff: man wird vom Familiengeiſte beherrſcht. Die
aus Hans und Grete u. ſ. w. beſtehende Familie, deren Herr¬
ſchaft machtlos geworden, iſt nur verinnerlicht, indem ſie als
„Familie“ überhaupt übrig bleibt, auf welche man eben nur an¬
wendet den alten Spruch: Man muß Gott mehr gehorchen als
dem Menſchen, deſſen Bedeutung hier dieſe iſt: Ich kann zwar
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[115/0123] ſich nur um ſo geſetzlicher zu ſein, je rationaliſtiſcher man das vorige mangelhafte Geſetz abſchaffte, um dem „Geiſte des Geſetzes“ zu huldigen. In alle dem hatten nur die Objecte eine Umgeſtaltung erlitten, waren aber in ihrer Uebermacht und Oberhoheit verblieben; kurz, man ſteckte noch in Gehorſam und Beſeſſenheit, lebte in der Reflexion, und hatte einen Gegenſtand, auf welchen man reflectirte, den man reſpectirte, und vor dem man Ehrfurcht und Furcht empfand. Man hatte nichts anderes gethan, als daß man die Dinge in Vorſtel¬ lungen von den Dingen, in Gedanken und Begriffe verwan¬ delte, und die Abhängigkeit um ſo inniger und unauflöslicher wurde. So hält es z. B. nicht ſchwer, von den Geboten der Aeltern ſich zu emancipiren, oder den Ermahnungen des On¬ kels und der Tante, den Bitten des Bruders und der Schwe¬ ſter ſich zu entziehen; allein der aufgekündigte Gehorſam fährt einem leicht ins Gewiſſen, und je weniger man auch den ein¬ zelnen Zumuthungen nachgiebt, weil man ſie rationaliſtiſch aus eigener Vernunft für unvernünftig erkennt, deſto gewiſſen¬ hafter hält man die Pietät, die Familienliebe feſt, und vergiebt ſich um ſo ſchwerer eine Verſündigung gegen die Vorſtel¬ lung, welche man von der Familienliebe und der Pietätspflicht gefaßt hat. Von der Abhängigkeit gegen die exiſtirende Fa¬ milie erlößt, fällt man in die bindendere Abhängigkeit von dem Familienbegriff: man wird vom Familiengeiſte beherrſcht. Die aus Hans und Grete u. ſ. w. beſtehende Familie, deren Herr¬ ſchaft machtlos geworden, iſt nur verinnerlicht, indem ſie als „Familie“ überhaupt übrig bleibt, auf welche man eben nur an¬ wendet den alten Spruch: Man muß Gott mehr gehorchen als dem Menſchen, deſſen Bedeutung hier dieſe iſt: Ich kann zwar Euren unſinnigen Anforderungen Mich nicht fügen, aber als 8 *

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Zitationshilfe: Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigenthum. Leipzig, 1845, S. 115. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stirner_einzige_1845/123>, abgerufen am 25.04.2024.