Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigenthum. Leipzig, 1845.

Bild:
<< vorherige Seite

andern Mächten der Menschheit:" so sehe Ich gerade in dem
Gegentheil das Richtige und meine, die Geisterherrschaft oder
Geistesfreiheit -- was auf Eins hinauskommt -- sei nie
zuvor so umfassend und allmächtig gewesen, weil die jetzige,
statt das religiöse Princip von Kunst, Staat und Wissenschaft
loszureißen, vielmehr diese ganz aus der Weltlichkeit in das
"Reich des Geistes" erhob und religiös machte.

Man stellte passend Luther und Cartesius zusammen in
dem "Wer glaubt, ist ein Gott" und "Ich denke, also bin
Ich" (cogito, ergo sum). Der Himmel des Menschen ist das
Denken, der -- Geist. Alles kann ihm entrissen werden,
das Denken nicht, nicht der Glaube. Bestimmter Glaube,
wie Glaube an Zeus, Astarte, Jehova, Allah u. s. w. kann
zerstört werden, der Glaube selbst hingegen ist unzerstörbar.
Im Denken ist Freiheit. Was Ich brauche und wonach Ich
Hunger habe, das wird Mir durch keine Gnade mehr ge¬
währt, durch die Jungfrau Maria, durch Fürsprache der Hei¬
ligen, oder durch die lösende und bindende Kirche, sondern
Ich verschaffe Mir's selber. Kurz Mein Sein (das sum) ist
ein Leben im Himmel des Denkens, des Geistes, ein cogitare.
Ich selber aber bin nichts anderes als Geist, als denkender
(nach Cartesius), als Gläubiger (nach Luther). Mein Leib,
das bin Ich nicht; Mein Fleisch mag leiden von Gelüsten
oder Qualen. Ich bin nicht Mein Fleisch, sondern Ich bin
Geist, nur Geist.

Dieser Gedanke durchzieht die Reformationsgeschichte bis
heute.

Erst die neuere Philosophie seit Cartesius hat Ernst da¬
mit gemacht, das Christenthum zu vollendeter Wirksamkeit zu
bringen, indem sie das "wissenschaftliche Bewußtsein" zum

andern Mächten der Menſchheit:“ ſo ſehe Ich gerade in dem
Gegentheil das Richtige und meine, die Geiſterherrſchaft oder
Geiſtesfreiheit — was auf Eins hinauskommt — ſei nie
zuvor ſo umfaſſend und allmächtig geweſen, weil die jetzige,
ſtatt das religiöſe Princip von Kunſt, Staat und Wiſſenſchaft
loszureißen, vielmehr dieſe ganz aus der Weltlichkeit in das
„Reich des Geiſtes“ erhob und religiös machte.

Man ſtellte paſſend Luther und Carteſius zuſammen in
dem „Wer glaubt, iſt ein Gott“ und „Ich denke, alſo bin
Ich“ (cogito, ergo sum). Der Himmel des Menſchen iſt das
Denken, der — Geiſt. Alles kann ihm entriſſen werden,
das Denken nicht, nicht der Glaube. Beſtimmter Glaube,
wie Glaube an Zeus, Aſtarte, Jehova, Allah u. ſ. w. kann
zerſtört werden, der Glaube ſelbſt hingegen iſt unzerſtörbar.
Im Denken iſt Freiheit. Was Ich brauche und wonach Ich
Hunger habe, das wird Mir durch keine Gnade mehr ge¬
währt, durch die Jungfrau Maria, durch Fürſprache der Hei¬
ligen, oder durch die löſende und bindende Kirche, ſondern
Ich verſchaffe Mir's ſelber. Kurz Mein Sein (das sum) iſt
ein Leben im Himmel des Denkens, des Geiſtes, ein cogitare.
Ich ſelber aber bin nichts anderes als Geiſt, als denkender
(nach Carteſius), als Gläubiger (nach Luther). Mein Leib,
das bin Ich nicht; Mein Fleiſch mag leiden von Gelüſten
oder Qualen. Ich bin nicht Mein Fleiſch, ſondern Ich bin
Geiſt, nur Geiſt.

Dieſer Gedanke durchzieht die Reformationsgeſchichte bis
heute.

Erſt die neuere Philoſophie ſeit Carteſius hat Ernſt da¬
mit gemacht, das Chriſtenthum zu vollendeter Wirkſamkeit zu
bringen, indem ſie das „wiſſenſchaftliche Bewußtſein“ zum

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0119" n="111"/>
andern Mächten der Men&#x017F;chheit:&#x201C; &#x017F;o &#x017F;ehe Ich gerade in dem<lb/>
Gegentheil das Richtige und meine, die Gei&#x017F;terherr&#x017F;chaft oder<lb/>
Gei&#x017F;tesfreiheit &#x2014; was auf Eins hinauskommt &#x2014; &#x017F;ei nie<lb/>
zuvor &#x017F;o umfa&#x017F;&#x017F;end und allmächtig gewe&#x017F;en, weil die jetzige,<lb/>
&#x017F;tatt das religiö&#x017F;e Princip von Kun&#x017F;t, Staat und Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft<lb/>
loszureißen, vielmehr die&#x017F;e ganz aus der Weltlichkeit in das<lb/>
&#x201E;Reich des Gei&#x017F;tes&#x201C; erhob und religiös machte.</p><lb/>
              <p>Man &#x017F;tellte pa&#x017F;&#x017F;end Luther und Carte&#x017F;ius zu&#x017F;ammen in<lb/>
dem &#x201E;Wer glaubt, i&#x017F;t ein Gott&#x201C; und &#x201E;Ich denke, al&#x017F;o bin<lb/>
Ich&#x201C; (<hi rendition="#aq">cogito, ergo sum</hi>). Der Himmel des Men&#x017F;chen i&#x017F;t das<lb/><hi rendition="#g">Denken</hi>, der &#x2014; Gei&#x017F;t. Alles kann ihm entri&#x017F;&#x017F;en werden,<lb/>
das Denken nicht, nicht der Glaube. <hi rendition="#g">Be&#x017F;timmter</hi> Glaube,<lb/>
wie Glaube an Zeus, A&#x017F;tarte, Jehova, Allah u. &#x017F;. w. kann<lb/>
zer&#x017F;tört werden, der Glaube &#x017F;elb&#x017F;t hingegen i&#x017F;t unzer&#x017F;törbar.<lb/>
Im Denken i&#x017F;t Freiheit. Was Ich brauche und wonach Ich<lb/>
Hunger habe, das wird Mir durch keine <hi rendition="#g">Gnade</hi> mehr ge¬<lb/>
währt, durch die Jungfrau Maria, durch Für&#x017F;prache der Hei¬<lb/>
ligen, oder durch die lö&#x017F;ende und bindende Kirche, &#x017F;ondern<lb/>
Ich ver&#x017F;chaffe Mir's &#x017F;elber. Kurz Mein Sein (das <hi rendition="#aq">sum</hi>) i&#x017F;t<lb/>
ein Leben im Himmel des Denkens, des Gei&#x017F;tes, ein <hi rendition="#aq">cogitare</hi>.<lb/>
Ich &#x017F;elber aber bin nichts anderes als Gei&#x017F;t, als denkender<lb/>
(nach Carte&#x017F;ius), als Gläubiger (nach Luther). Mein Leib,<lb/>
das bin Ich nicht; Mein Flei&#x017F;ch mag <hi rendition="#g">leiden</hi> von Gelü&#x017F;ten<lb/>
oder Qualen. Ich bin nicht Mein Flei&#x017F;ch, &#x017F;ondern <hi rendition="#g">Ich</hi> bin<lb/><hi rendition="#g">Gei&#x017F;t</hi>, nur Gei&#x017F;t.</p><lb/>
              <p>Die&#x017F;er Gedanke durchzieht die Reformationsge&#x017F;chichte bis<lb/>
heute.</p><lb/>
              <p>Er&#x017F;t die neuere Philo&#x017F;ophie &#x017F;eit Carte&#x017F;ius hat Ern&#x017F;t da¬<lb/>
mit gemacht, das Chri&#x017F;tenthum zu vollendeter Wirk&#x017F;amkeit zu<lb/>
bringen, indem &#x017F;ie das &#x201E;wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaftliche Bewußt&#x017F;ein&#x201C; zum<lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[111/0119] andern Mächten der Menſchheit:“ ſo ſehe Ich gerade in dem Gegentheil das Richtige und meine, die Geiſterherrſchaft oder Geiſtesfreiheit — was auf Eins hinauskommt — ſei nie zuvor ſo umfaſſend und allmächtig geweſen, weil die jetzige, ſtatt das religiöſe Princip von Kunſt, Staat und Wiſſenſchaft loszureißen, vielmehr dieſe ganz aus der Weltlichkeit in das „Reich des Geiſtes“ erhob und religiös machte. Man ſtellte paſſend Luther und Carteſius zuſammen in dem „Wer glaubt, iſt ein Gott“ und „Ich denke, alſo bin Ich“ (cogito, ergo sum). Der Himmel des Menſchen iſt das Denken, der — Geiſt. Alles kann ihm entriſſen werden, das Denken nicht, nicht der Glaube. Beſtimmter Glaube, wie Glaube an Zeus, Aſtarte, Jehova, Allah u. ſ. w. kann zerſtört werden, der Glaube ſelbſt hingegen iſt unzerſtörbar. Im Denken iſt Freiheit. Was Ich brauche und wonach Ich Hunger habe, das wird Mir durch keine Gnade mehr ge¬ währt, durch die Jungfrau Maria, durch Fürſprache der Hei¬ ligen, oder durch die löſende und bindende Kirche, ſondern Ich verſchaffe Mir's ſelber. Kurz Mein Sein (das sum) iſt ein Leben im Himmel des Denkens, des Geiſtes, ein cogitare. Ich ſelber aber bin nichts anderes als Geiſt, als denkender (nach Carteſius), als Gläubiger (nach Luther). Mein Leib, das bin Ich nicht; Mein Fleiſch mag leiden von Gelüſten oder Qualen. Ich bin nicht Mein Fleiſch, ſondern Ich bin Geiſt, nur Geiſt. Dieſer Gedanke durchzieht die Reformationsgeſchichte bis heute. Erſt die neuere Philoſophie ſeit Carteſius hat Ernſt da¬ mit gemacht, das Chriſtenthum zu vollendeter Wirkſamkeit zu bringen, indem ſie das „wiſſenſchaftliche Bewußtſein“ zum

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/stirner_einzige_1845
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/stirner_einzige_1845/119
Zitationshilfe: Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigenthum. Leipzig, 1845, S. 111. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stirner_einzige_1845/119>, abgerufen am 25.04.2024.