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Stifter, Adalbert: Bunte Steine. Bd. 2. Pest u. a., 1853.

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That doch nicht so nahe ist. Er sieht das ganze Jahr,
Sommer und Winter, mit seinen vorstehenden Felsen
und mit seinen weißen Flächen in das Thal herab. Als
das Auffallendste, was sie in ihrer Umgebung haben,
ist der Berg der Gegenstand der Betrachtung der Be¬
wohner, und er ist der Mittelpunkt vieler Geschich¬
ten geworden. Es lebt kein Mann und Greis in dem
Dorfe, der nicht von den Zaken und Spizen des Ber¬
ges, von seinen Eisspalten und Höhlen, von seinen
Wässern und Geröllströmen etwas zu erzählen wüßte,
was er entweder selbst erfahren, oder von andern er¬
zählen gehört hat. Dieser Berg ist auch der Stolz
des Dorfes, als hätten sie ihn selber gemacht, und es
ist nicht so ganz entschieden, wenn man auch die Bie¬
derkeit und Wahrheitsliebe der Thalbewohner hoch
anschlägt, ob sie nicht zuweilen zur Ehre und zum
Ruhme des Berges lügen. Der Berg gibt den Be¬
wohnern außerdem, daß er ihre Merkwürdigkeit ist,
auch wirklichen Nuzen; denn wenn eine Gesellschaft
von Gebirgsreisenden herein kömmt, um von dem
Thale aus den Berg zu besteigen, so dienen die Be¬
wohner des Dorfes als Führer, und einmal Führer
gewesen zu sein, dieses und jenes erlebt zu haben,
diese und jene Stelle zu kennen, ist eine Auszeich¬
nung, die jeder gerne von sich darlegt. Sie reden oft

That doch nicht ſo nahe iſt. Er ſieht das ganze Jahr,
Sommer und Winter, mit ſeinen vorſtehenden Felſen
und mit ſeinen weißen Flächen in das Thal herab. Als
das Auffallendſte, was ſie in ihrer Umgebung haben,
iſt der Berg der Gegenſtand der Betrachtung der Be¬
wohner, und er iſt der Mittelpunkt vieler Geſchich¬
ten geworden. Es lebt kein Mann und Greis in dem
Dorfe, der nicht von den Zaken und Spizen des Ber¬
ges, von ſeinen Eisſpalten und Höhlen, von ſeinen
Wäſſern und Geröllſtrömen etwas zu erzählen wüßte,
was er entweder ſelbſt erfahren, oder von andern er¬
zählen gehört hat. Dieſer Berg iſt auch der Stolz
des Dorfes, als hätten ſie ihn ſelber gemacht, und es
iſt nicht ſo ganz entſchieden, wenn man auch die Bie¬
derkeit und Wahrheitsliebe der Thalbewohner hoch
anſchlägt, ob ſie nicht zuweilen zur Ehre und zum
Ruhme des Berges lügen. Der Berg gibt den Be¬
wohnern außerdem, daß er ihre Merkwürdigkeit iſt,
auch wirklichen Nuzen; denn wenn eine Geſellſchaft
von Gebirgsreiſenden herein kömmt, um von dem
Thale aus den Berg zu beſteigen, ſo dienen die Be¬
wohner des Dorfes als Führer, und einmal Führer
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[10/0021] That doch nicht ſo nahe iſt. Er ſieht das ganze Jahr, Sommer und Winter, mit ſeinen vorſtehenden Felſen und mit ſeinen weißen Flächen in das Thal herab. Als das Auffallendſte, was ſie in ihrer Umgebung haben, iſt der Berg der Gegenſtand der Betrachtung der Be¬ wohner, und er iſt der Mittelpunkt vieler Geſchich¬ ten geworden. Es lebt kein Mann und Greis in dem Dorfe, der nicht von den Zaken und Spizen des Ber¬ ges, von ſeinen Eisſpalten und Höhlen, von ſeinen Wäſſern und Geröllſtrömen etwas zu erzählen wüßte, was er entweder ſelbſt erfahren, oder von andern er¬ zählen gehört hat. Dieſer Berg iſt auch der Stolz des Dorfes, als hätten ſie ihn ſelber gemacht, und es iſt nicht ſo ganz entſchieden, wenn man auch die Bie¬ derkeit und Wahrheitsliebe der Thalbewohner hoch anſchlägt, ob ſie nicht zuweilen zur Ehre und zum Ruhme des Berges lügen. Der Berg gibt den Be¬ wohnern außerdem, daß er ihre Merkwürdigkeit iſt, auch wirklichen Nuzen; denn wenn eine Geſellſchaft von Gebirgsreiſenden herein kömmt, um von dem Thale aus den Berg zu beſteigen, ſo dienen die Be¬ wohner des Dorfes als Führer, und einmal Führer geweſen zu ſein, dieſes und jenes erlebt zu haben, dieſe und jene Stelle zu kennen, iſt eine Auszeich¬ nung, die jeder gerne von ſich darlegt. Sie reden oft

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Zitationshilfe: Stifter, Adalbert: Bunte Steine. Bd. 2. Pest u. a., 1853, S. 10. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stifter_steine02_1853/21>, abgerufen am 24.04.2024.