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Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855.

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ist aber keineswegs so. Es muß gezweifelt werden, ob der
Zweifel gründlich, werth- und gehaltvoll ist; ob er zu einer wirkli-
chen That des Denkens geworden, oder bloßes Wort, bloßer
abstracter Vorsatz geblieben ist: das treibt zu sorgfältiger Un-
tersuchung, d. h. zur Kritik.

Ist denn Zweifeln so leicht? das Wort auszusprechen, aller-
dings gar sehr. Aber manchem, der sich Kritiker dünkt, sind
tausende der berechtigtesten Zweifel rein unmöglich, weil ihm
alle Vorbedingungen dazu fehlen; und tausende der berechtigte-
sten Sätze will er nicht anerkennen, weil er nicht fähig ist, sie
zu begreifen. Man muß viel wissen, sehr geübt sein im Den-
ken, viel Scharfsinn haben, um den Punkt des Zweifels zu ent-
decken; und der einzelne, noch so hoch Begabte, steht immer
noch unter dem Einflusse seiner Zeit und kann gewisse Dinge
nicht bezweifeln. Doch genug hiervon! wir haben im Buche
selbst Gelegenheit gehabt, von Dialektik zu reden; und der Zwei-
fel, der nicht zur Dialektik, zur Kritik wird, verdient nicht die
mindeste Beachtung.

Lernt die Natur des menschlichen Denkens kennen, die Na-
tur des Objects und der allgemeinen Kategorien; studirt also
Psychologie, Metaphysik, Logik. Studirt auch Geschichte, die
vorzüglich geeignet ist, uns von Irrthümern zu reinigen und vor
der Eitelkeit zu bewahren, daß jeder närrische Gedanke, der
uns durch den Kopf fliegt, eine nagelneue Wahrheit sei, in-
dem nämlich die Geschichte lehrt, daß die Erzeugnisse unsers
sogenannten Selbstdenkens meist schon vor Jahrhunderten und
Jahrtausenden in viel tieferer Weise erdacht, umfassender durch-
geführt und schon längst gründlich widerlegt sind.

Mit vorliegendem Werke wollte ich ein doppeltes Verspre-
chen einlösen. Erstlich habe ich Herrn Pott öffentlich (siehe
meine Abhandlung "Die Entwickelung der Schrift" S. 19) ver-
sprochen, das Verhältniß der Grammatik zur Logik ausführlich
zu erörtern; und zweitens war meine Schrift "Der Ursprung
der Sprache" ein stillschweigendes Versprechen, die daselbst
gestellte Aufgabe zu übernehmen. In gegenwärtigem Werke sind
beide Punkte dem einen Zwecke untergeordnet, das Princip der

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ist aber keineswegs so. Es muß gezweifelt werden, ob der
Zweifel gründlich, werth- und gehaltvoll ist; ob er zu einer wirkli-
chen That des Denkens geworden, oder bloßes Wort, bloßer
abstracter Vorsatz geblieben ist: das treibt zu sorgfältiger Un-
tersuchung, d. h. zur Kritik.

Ist denn Zweifeln so leicht? das Wort auszusprechen, aller-
dings gar sehr. Aber manchem, der sich Kritiker dünkt, sind
tausende der berechtigtesten Zweifel rein unmöglich, weil ihm
alle Vorbedingungen dazu fehlen; und tausende der berechtigte-
sten Sätze will er nicht anerkennen, weil er nicht fähig ist, sie
zu begreifen. Man muß viel wissen, sehr geübt sein im Den-
ken, viel Scharfsinn haben, um den Punkt des Zweifels zu ent-
decken; und der einzelne, noch so hoch Begabte, steht immer
noch unter dem Einflusse seiner Zeit und kann gewisse Dinge
nicht bezweifeln. Doch genug hiervon! wir haben im Buche
selbst Gelegenheit gehabt, von Dialektik zu reden; und der Zwei-
fel, der nicht zur Dialektik, zur Kritik wird, verdient nicht die
mindeste Beachtung.

Lernt die Natur des menschlichen Denkens kennen, die Na-
tur des Objects und der allgemeinen Kategorien; studirt also
Psychologie, Metaphysik, Logik. Studirt auch Geschichte, die
vorzüglich geeignet ist, uns von Irrthümern zu reinigen und vor
der Eitelkeit zu bewahren, daß jeder närrische Gedanke, der
uns durch den Kopf fliegt, eine nagelneue Wahrheit sei, in-
dem nämlich die Geschichte lehrt, daß die Erzeugnisse unsers
sogenannten Selbstdenkens meist schon vor Jahrhunderten und
Jahrtausenden in viel tieferer Weise erdacht, umfassender durch-
geführt und schon längst gründlich widerlegt sind.

Mit vorliegendem Werke wollte ich ein doppeltes Verspre-
chen einlösen. Erstlich habe ich Herrn Pott öffentlich (siehe
meine Abhandlung „Die Entwickelung der Schrift“ S. 19) ver-
sprochen, das Verhältniß der Grammatik zur Logik ausführlich
zu erörtern; und zweitens war meine Schrift „Der Ursprung
der Sprache“ ein stillschweigendes Versprechen, die daselbst
gestellte Aufgabe zu übernehmen. In gegenwärtigem Werke sind
beide Punkte dem einen Zwecke untergeordnet, das Princip der

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Zitationshilfe: Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855, S. XIX. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855/25>, abgerufen am 28.03.2024.