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Steinen, Karl von den: Unter den Naturvölkern Zentral-Brasiliens. Berlin, 1894.

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Ketten aus Muschel- und Nussperlen, Knochenstückchen, durchbohrten
Samenkernen waren vorhanden, standen aber an Bedeutung denen am Schingu
weit nach. Am meisten schätzte man Perlen, die aus dem Gürteltierpanzer
verfertigt wurden. Näheres darüber werde ich bei der Schilderung der Thätig-
keit im Männerhaus angeben. Dort bespreche ich auch Zierschnüre für beide
Geschlechter, die wir "Hosenträger" zu nennen pflegten.

[Abbildung]
[Abbildung] Abb. 136.

Kopfschmuck aus Jaguarkrallen.
Bororo. ( 2/3 nat. Gr.)

Die Aroe. Der Mittelpunkt des Bororo-Daseins ist der Baito, das Männer-
haus, und neben dem unglaublich geräuschvollen Leben, dass sich hier Tag und
Nacht abspielt, sind die Familienhütten kaum etwas mehr als der Aufenthalt für
Frauen und Kinder. Die vereinigten Männer heissen aroe und zwar mit be-
sonderer Rücksicht auf die gemeinsame Jagd. In den, man darf ohne viel
Uebertreibung sagen, fast jeden Tag und jede Nacht im Baito erschallenden
und weithin hallenden Gesängen ist aroe nicht das dritte, sondern das zweite
Wort; denn die Gesänge enthalten Aufzählungen von Tieren und Dingen, deren
jedem, sobald es genannt ist, mindestens ein aroe folgt. Gesungen wird zu
allen Ereignissen, die irgendwie die Gefühle von Trauer oder Freude erregen,
und zwar, soweit das möglich ist, auch sowohl an ihrem Vorabend wie zur Nach-
feier. Der Häuptling sagt am Abend für den folgenden Tag eine Jagd an: statt
dass sich die Leute nun vernünftiger Weise schlafen legten, bis die frühe Stunde
des Aufbruchs da ist, vereinigen sich die aroe zu ihrem Jagdgesang und die
eifrigsten singen unentwegt bis zum Morgen. Der Stamm macht den Eindruck
eines aus Jägern zusammengesetzten Männergesangvereins, dessen Mitglieder sich
verpflichten, solange sie nicht etwa 40 Jahre alt sind, nicht zu heiraten, sondern
in ihrem Klubhaus miteinander zu leben. Die älteren, mit Familie versehenen
Genossen sind die angesehenen Träger von Amt und Würden und können des-
halb auch nur wenig Zeit zu Hause zubringen; sie nehmen an den Jagdausflügen
Teil oder haben im Klubhaus zu wirken, wo sie für Ordnung sorgen, die Ge-
sänge leiten und an den beschäftigten Tagen auch an dem Essen teilnehmen,
das die Frauen hinschicken.


Ketten aus Muschel- und Nussperlen, Knochenstückchen, durchbohrten
Samenkernen waren vorhanden, standen aber an Bedeutung denen am Schingú
weit nach. Am meisten schätzte man Perlen, die aus dem Gürteltierpanzer
verfertigt wurden. Näheres darüber werde ich bei der Schilderung der Thätig-
keit im Männerhaus angeben. Dort bespreche ich auch Zierschnüre für beide
Geschlechter, die wir »Hosenträger« zu nennen pflegten.

[Abbildung]
[Abbildung] Abb. 136.

Kopfschmuck aus Jaguarkrallen.
Bororó. (⅔ nat. Gr.)

Die Aróe. Der Mittelpunkt des Bororó-Daseins ist der Baitó, das Männer-
haus, und neben dem unglaublich geräuschvollen Leben, dass sich hier Tag und
Nacht abspielt, sind die Familienhütten kaum etwas mehr als der Aufenthalt für
Frauen und Kinder. Die vereinigten Männer heissen aróe und zwar mit be-
sonderer Rücksicht auf die gemeinsame Jagd. In den, man darf ohne viel
Uebertreibung sagen, fast jeden Tag und jede Nacht im Baitó erschallenden
und weithin hallenden Gesängen ist aróe nicht das dritte, sondern das zweite
Wort; denn die Gesänge enthalten Aufzählungen von Tieren und Dingen, deren
jedem, sobald es genannt ist, mindestens ein aróe folgt. Gesungen wird zu
allen Ereignissen, die irgendwie die Gefühle von Trauer oder Freude erregen,
und zwar, soweit das möglich ist, auch sowohl an ihrem Vorabend wie zur Nach-
feier. Der Häuptling sagt am Abend für den folgenden Tag eine Jagd an: statt
dass sich die Leute nun vernünftiger Weise schlafen legten, bis die frühe Stunde
des Aufbruchs da ist, vereinigen sich die aróe zu ihrem Jagdgesang und die
eifrigsten singen unentwegt bis zum Morgen. Der Stamm macht den Eindruck
eines aus Jägern zusammengesetzten Männergesangvereins, dessen Mitglieder sich
verpflichten, solange sie nicht etwa 40 Jahre alt sind, nicht zu heiraten, sondern
in ihrem Klubhaus miteinander zu leben. Die älteren, mit Familie versehenen
Genossen sind die angesehenen Träger von Amt und Würden und können des-
halb auch nur wenig Zeit zu Hause zubringen; sie nehmen an den Jagdausflügen
Teil oder haben im Klubhaus zu wirken, wo sie für Ordnung sorgen, die Ge-
sänge leiten und an den beschäftigten Tagen auch an dem Essen teilnehmen,
das die Frauen hinschicken.


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[480/0550] Ketten aus Muschel- und Nussperlen, Knochenstückchen, durchbohrten Samenkernen waren vorhanden, standen aber an Bedeutung denen am Schingú weit nach. Am meisten schätzte man Perlen, die aus dem Gürteltierpanzer verfertigt wurden. Näheres darüber werde ich bei der Schilderung der Thätig- keit im Männerhaus angeben. Dort bespreche ich auch Zierschnüre für beide Geschlechter, die wir »Hosenträger« zu nennen pflegten. [Abbildung] [Abbildung Abb. 136. Kopfschmuck aus Jaguarkrallen. Bororó. (⅔ nat. Gr.) ] Die Aróe. Der Mittelpunkt des Bororó-Daseins ist der Baitó, das Männer- haus, und neben dem unglaublich geräuschvollen Leben, dass sich hier Tag und Nacht abspielt, sind die Familienhütten kaum etwas mehr als der Aufenthalt für Frauen und Kinder. Die vereinigten Männer heissen aróe und zwar mit be- sonderer Rücksicht auf die gemeinsame Jagd. In den, man darf ohne viel Uebertreibung sagen, fast jeden Tag und jede Nacht im Baitó erschallenden und weithin hallenden Gesängen ist aróe nicht das dritte, sondern das zweite Wort; denn die Gesänge enthalten Aufzählungen von Tieren und Dingen, deren jedem, sobald es genannt ist, mindestens ein aróe folgt. Gesungen wird zu allen Ereignissen, die irgendwie die Gefühle von Trauer oder Freude erregen, und zwar, soweit das möglich ist, auch sowohl an ihrem Vorabend wie zur Nach- feier. Der Häuptling sagt am Abend für den folgenden Tag eine Jagd an: statt dass sich die Leute nun vernünftiger Weise schlafen legten, bis die frühe Stunde des Aufbruchs da ist, vereinigen sich die aróe zu ihrem Jagdgesang und die eifrigsten singen unentwegt bis zum Morgen. Der Stamm macht den Eindruck eines aus Jägern zusammengesetzten Männergesangvereins, dessen Mitglieder sich verpflichten, solange sie nicht etwa 40 Jahre alt sind, nicht zu heiraten, sondern in ihrem Klubhaus miteinander zu leben. Die älteren, mit Familie versehenen Genossen sind die angesehenen Träger von Amt und Würden und können des- halb auch nur wenig Zeit zu Hause zubringen; sie nehmen an den Jagdausflügen Teil oder haben im Klubhaus zu wirken, wo sie für Ordnung sorgen, die Ge- sänge leiten und an den beschäftigten Tagen auch an dem Essen teilnehmen, das die Frauen hinschicken.

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Zitationshilfe: Steinen, Karl von den: Unter den Naturvölkern Zentral-Brasiliens. Berlin, 1894, S. 480. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinen_naturvoelker_1894/550>, abgerufen am 23.04.2024.