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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 5. Stuttgart, 1868.

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dem Andern mit. Es erzeugt sich bei dem Einen durch den Andern.
Der Einzelne wird mit dem, was er geistig besitzt, zum Maß und
Vorbild, mit dem was er dadurch gilt, zum Sporn, mit dem was er
dadurch thut, zum Lehrer und Erzieher des Andern. Die Bildung ist
daher an und für sich keine ruhende Thatsache, sondern sie ist ihrem
höheren Wesen nach ein beständig wirkender, lebendiger Proceß,
vermöge dessen und in welchem die menschliche Gemeinschaft die geistigen
Güter für jeden Einzelnen durch organische, mehr oder weniger bewußte
Thätigkeit, hervorbringt, und jede Bildung wird dadurch zu einem
geistigen Zustand der Vertheilung und des Umfangs dieser geistigen
Güter durch jenen Proceß, den ich in einem gegebenen Momente als
Thatsache auffassen kann. Wir nennen einen solchen Zustand, insofern
er zugleich einen hohen sittlichen Inhalt hat, die Gesittung oder
Civilisation. Die Elemente der Geschichte der Gesittung sind daher
vor allen Dingen in dem Bildungswesen einer Zeit und eines Volkes
gegeben. Das System des letzteren wird zur Basis der ersteren; ohne
jenes bleibt das Urtheil über dieses stets in der Sphäre des subjek-
tiven Eindrucks, und wenn die tiefer eingehende Geschichtschreibung
überhaupt das Studium der Verwaltungslehre und des Verwaltungs-
rechts künftig voraussetzen wird, so wird die Geschichte des menschlichen
Geistes ohne das Studium des Bildungswesens ewig eine unfertige bleiben.

Indeß ist es unsre Aufgabe nicht, dieß speziell zu verfolgen. Wir
haben vielmehr das Verhältniß der Bildung zum Staate und zur
Verwaltung
auf seine letzten Grundlagen zurückzuführen.

Ist nämlich die Bildung und Gesittung ein so gewaltiger Faktor
des Lebens, so wird sie so wenig sich dem Einflusse des Staats ent-
ziehen, wie der Staat es vermag, sich gegen sie gleichgültig zu verhalten.
Allein der Ausdruck "Bildung" bedeutet etwas so Allgemeines und
Unbestimmtes, daß ein Verständniß dieses Verhältnisses erst da beginnen
kann, wo die Bildung durch Auflösung in ihre elementaren Grund-
formen selbst eine feste Gestalt gewinnt. Es ist kein Zweifel, daß es
Sache der Pädagogik ist, diese Auflösung zu vollziehen. Allein wir
können dieselbe dennoch nicht als bekannt oder anerkannt voraussetzen.
Der Mangel des verwaltungsrechtlichen Elements in der Pädagogik hat
hier eine umfassende, ausreichende Auffassung nicht entstehen lassen.
Nicht daher um neue Begriffe aufzustellen, sondern um die bekannten
so zu ordnen, daß sie der Verwaltungslehre genügen, müssen wir den
oben bezeichneten abstrakten Begriff der Bildung genauer betrachten, ehe
wir zu dem Inhalt des öffentlichen Bildungsrechts gelangen können.

Jener Begriff der Bildung nämlich, wie wir ihn aufgestellt, enthält
schon den Punkt, von welchem die Wissenschaft allein zu dem Begriff

dem Andern mit. Es erzeugt ſich bei dem Einen durch den Andern.
Der Einzelne wird mit dem, was er geiſtig beſitzt, zum Maß und
Vorbild, mit dem was er dadurch gilt, zum Sporn, mit dem was er
dadurch thut, zum Lehrer und Erzieher des Andern. Die Bildung iſt
daher an und für ſich keine ruhende Thatſache, ſondern ſie iſt ihrem
höheren Weſen nach ein beſtändig wirkender, lebendiger Proceß,
vermöge deſſen und in welchem die menſchliche Gemeinſchaft die geiſtigen
Güter für jeden Einzelnen durch organiſche, mehr oder weniger bewußte
Thätigkeit, hervorbringt, und jede Bildung wird dadurch zu einem
geiſtigen Zuſtand der Vertheilung und des Umfangs dieſer geiſtigen
Güter durch jenen Proceß, den ich in einem gegebenen Momente als
Thatſache auffaſſen kann. Wir nennen einen ſolchen Zuſtand, inſofern
er zugleich einen hohen ſittlichen Inhalt hat, die Geſittung oder
Civiliſation. Die Elemente der Geſchichte der Geſittung ſind daher
vor allen Dingen in dem Bildungsweſen einer Zeit und eines Volkes
gegeben. Das Syſtem des letzteren wird zur Baſis der erſteren; ohne
jenes bleibt das Urtheil über dieſes ſtets in der Sphäre des ſubjek-
tiven Eindrucks, und wenn die tiefer eingehende Geſchichtſchreibung
überhaupt das Studium der Verwaltungslehre und des Verwaltungs-
rechts künftig vorausſetzen wird, ſo wird die Geſchichte des menſchlichen
Geiſtes ohne das Studium des Bildungsweſens ewig eine unfertige bleiben.

Indeß iſt es unſre Aufgabe nicht, dieß ſpeziell zu verfolgen. Wir
haben vielmehr das Verhältniß der Bildung zum Staate und zur
Verwaltung
auf ſeine letzten Grundlagen zurückzuführen.

Iſt nämlich die Bildung und Geſittung ein ſo gewaltiger Faktor
des Lebens, ſo wird ſie ſo wenig ſich dem Einfluſſe des Staats ent-
ziehen, wie der Staat es vermag, ſich gegen ſie gleichgültig zu verhalten.
Allein der Ausdruck „Bildung“ bedeutet etwas ſo Allgemeines und
Unbeſtimmtes, daß ein Verſtändniß dieſes Verhältniſſes erſt da beginnen
kann, wo die Bildung durch Auflöſung in ihre elementaren Grund-
formen ſelbſt eine feſte Geſtalt gewinnt. Es iſt kein Zweifel, daß es
Sache der Pädagogik iſt, dieſe Auflöſung zu vollziehen. Allein wir
können dieſelbe dennoch nicht als bekannt oder anerkannt vorausſetzen.
Der Mangel des verwaltungsrechtlichen Elements in der Pädagogik hat
hier eine umfaſſende, ausreichende Auffaſſung nicht entſtehen laſſen.
Nicht daher um neue Begriffe aufzuſtellen, ſondern um die bekannten
ſo zu ordnen, daß ſie der Verwaltungslehre genügen, müſſen wir den
oben bezeichneten abſtrakten Begriff der Bildung genauer betrachten, ehe
wir zu dem Inhalt des öffentlichen Bildungsrechts gelangen können.

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ſchon den Punkt, von welchem die Wiſſenſchaft allein zu dem Begriff

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Zitationshilfe: Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 5. Stuttgart, 1868, S. 2. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre05_1868/30>, abgerufen am 29.03.2024.