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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 5. Stuttgart, 1868.

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des organischen Bewußtseins und Verständnisses desselben liefert.
So viel wir wissen, ist die Aufstellung eines solchen Systems über-
haupt noch nie versucht, geschweige denn durchgeführt. Daß aber
dasselbe für die Wissenschaft unabweisbar geworden ist, nachdem
das öffentliche Recht es im wirklichen Leben bereits hergestellt, ist
nicht fraglich.

Zweitens fehlt -- vielleicht wohl gerade aus dem obigen
Grunde -- eine klare Bestimmung der meisten Einzelbegriffe und
ihrer Grenzen gegen einander. Es ist ziemlich vergeblich, nach einer
wissenschaftlichen und damit allgemein gültigen Bestimmung des
Wesens von Volks- und Bürgerschule, von wissenschaftlichen und
wirthschaftlichen Bildungsanstalten, von Real- und Gewerbeschule
und hundert andern Erscheinungen zu suchen, denn selbst Wiese's
Definitionen beziehen sich nur auf preußische, nicht einmal gleich-
artige Verhältnisse. Die Wissenschaft hat alle diese Dinge so sehr
der Praxis und dem Experimente überlassen, daß die letzteren sich
schon dessen entwöhnt haben, bei der ersteren überhaupt darüber
Rath zu suchen. Und doch ist ein rechtes Verständniß des in jedem
Lande wirklich vorhandenen, gültigen Systems des öffentlichen Bil-
dungswesens und seines Rechts ohne solche feste Begriffsbestim-
mungen, ja wenn man will ohne Schema, geradezu nicht möglich.

Drittens fehlt diesem Theile der Wissenschaft des öffentlichen
Rechts, was so ziemlich auch allen andern fehlt, das Bewußtsein
und die Erkenntniß der nationalen oder individuellen Gestalt des
Bildungswesens in den Kulturländern. Wir haben namentlich in
neuester Zeit sehr schöne Arbeiten über Englands und Frankreichs
Bildungswesen; aber wir haben keine Vergleichung derselben,
weil eben das feste System, das tertium comparationis, mangelt.

Einer der Hauptgründe für diese Mängel beruht nun wohl
auf der historischen Thatsache, daß bisher eine innere oder gar
äußere Einheit, eine Gemeinschaft des Bewußtseins der Aufgaben
und ihres organischen Ineinandergreifens für alle Theile des Bil-
dungswesens gefehlt hat und fehlt. Es existiren noch sehr wenig
Berührungen zwischen den Lehrern in den Schulen, den Lehrern
auf den Vorbildungsanstalten und dem Professorenthum an den

des organiſchen Bewußtſeins und Verſtändniſſes deſſelben liefert.
So viel wir wiſſen, iſt die Aufſtellung eines ſolchen Syſtems über-
haupt noch nie verſucht, geſchweige denn durchgeführt. Daß aber
daſſelbe für die Wiſſenſchaft unabweisbar geworden iſt, nachdem
das öffentliche Recht es im wirklichen Leben bereits hergeſtellt, iſt
nicht fraglich.

Zweitens fehlt — vielleicht wohl gerade aus dem obigen
Grunde — eine klare Beſtimmung der meiſten Einzelbegriffe und
ihrer Grenzen gegen einander. Es iſt ziemlich vergeblich, nach einer
wiſſenſchaftlichen und damit allgemein gültigen Beſtimmung des
Weſens von Volks- und Bürgerſchule, von wiſſenſchaftlichen und
wirthſchaftlichen Bildungsanſtalten, von Real- und Gewerbeſchule
und hundert andern Erſcheinungen zu ſuchen, denn ſelbſt Wieſe’s
Definitionen beziehen ſich nur auf preußiſche, nicht einmal gleich-
artige Verhältniſſe. Die Wiſſenſchaft hat alle dieſe Dinge ſo ſehr
der Praxis und dem Experimente überlaſſen, daß die letzteren ſich
ſchon deſſen entwöhnt haben, bei der erſteren überhaupt darüber
Rath zu ſuchen. Und doch iſt ein rechtes Verſtändniß des in jedem
Lande wirklich vorhandenen, gültigen Syſtems des öffentlichen Bil-
dungsweſens und ſeines Rechts ohne ſolche feſte Begriffsbeſtim-
mungen, ja wenn man will ohne Schema, geradezu nicht möglich.

Drittens fehlt dieſem Theile der Wiſſenſchaft des öffentlichen
Rechts, was ſo ziemlich auch allen andern fehlt, das Bewußtſein
und die Erkenntniß der nationalen oder individuellen Geſtalt des
Bildungsweſens in den Kulturländern. Wir haben namentlich in
neueſter Zeit ſehr ſchöne Arbeiten über Englands und Frankreichs
Bildungsweſen; aber wir haben keine Vergleichung derſelben,
weil eben das feſte Syſtem, das tertium comparationis, mangelt.

Einer der Hauptgründe für dieſe Mängel beruht nun wohl
auf der hiſtoriſchen Thatſache, daß bisher eine innere oder gar
äußere Einheit, eine Gemeinſchaft des Bewußtſeins der Aufgaben
und ihres organiſchen Ineinandergreifens für alle Theile des Bil-
dungsweſens gefehlt hat und fehlt. Es exiſtiren noch ſehr wenig
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[VI/0012] des organiſchen Bewußtſeins und Verſtändniſſes deſſelben liefert. So viel wir wiſſen, iſt die Aufſtellung eines ſolchen Syſtems über- haupt noch nie verſucht, geſchweige denn durchgeführt. Daß aber daſſelbe für die Wiſſenſchaft unabweisbar geworden iſt, nachdem das öffentliche Recht es im wirklichen Leben bereits hergeſtellt, iſt nicht fraglich. Zweitens fehlt — vielleicht wohl gerade aus dem obigen Grunde — eine klare Beſtimmung der meiſten Einzelbegriffe und ihrer Grenzen gegen einander. Es iſt ziemlich vergeblich, nach einer wiſſenſchaftlichen und damit allgemein gültigen Beſtimmung des Weſens von Volks- und Bürgerſchule, von wiſſenſchaftlichen und wirthſchaftlichen Bildungsanſtalten, von Real- und Gewerbeſchule und hundert andern Erſcheinungen zu ſuchen, denn ſelbſt Wieſe’s Definitionen beziehen ſich nur auf preußiſche, nicht einmal gleich- artige Verhältniſſe. Die Wiſſenſchaft hat alle dieſe Dinge ſo ſehr der Praxis und dem Experimente überlaſſen, daß die letzteren ſich ſchon deſſen entwöhnt haben, bei der erſteren überhaupt darüber Rath zu ſuchen. Und doch iſt ein rechtes Verſtändniß des in jedem Lande wirklich vorhandenen, gültigen Syſtems des öffentlichen Bil- dungsweſens und ſeines Rechts ohne ſolche feſte Begriffsbeſtim- mungen, ja wenn man will ohne Schema, geradezu nicht möglich. Drittens fehlt dieſem Theile der Wiſſenſchaft des öffentlichen Rechts, was ſo ziemlich auch allen andern fehlt, das Bewußtſein und die Erkenntniß der nationalen oder individuellen Geſtalt des Bildungsweſens in den Kulturländern. Wir haben namentlich in neueſter Zeit ſehr ſchöne Arbeiten über Englands und Frankreichs Bildungsweſen; aber wir haben keine Vergleichung derſelben, weil eben das feſte Syſtem, das tertium comparationis, mangelt. Einer der Hauptgründe für dieſe Mängel beruht nun wohl auf der hiſtoriſchen Thatſache, daß bisher eine innere oder gar äußere Einheit, eine Gemeinſchaft des Bewußtſeins der Aufgaben und ihres organiſchen Ineinandergreifens für alle Theile des Bil- dungsweſens gefehlt hat und fehlt. Es exiſtiren noch ſehr wenig Berührungen zwiſchen den Lehrern in den Schulen, den Lehrern auf den Vorbildungsanſtalten und dem Profeſſorenthum an den

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Zitationshilfe: Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 5. Stuttgart, 1868, S. VI. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre05_1868/12>, abgerufen am 23.04.2024.