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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 4. Stuttgart, 1867.

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zur Geltung zu bringen, und damit für die gesammte Polizei in all
ihren Formen eine neue Epoche zu begründen, mußte ein neues Element
zur Geltung gelangen.

Dieß nun geschieht mit dem Beginne der staatsbürgerlichen Gesell-
schaft dadurch, daß der Staat sich selbständig hinstellt, von den an
sich freien Einzelnen, die ihm angehören, scheidet, und somit in Staat
und Staatsbürger sich zwei Persönlichkeiten (Rechtssubjekte sagt man,
als ob es "Subjekte" ohne Recht gäbe) gegenüber treten, von denen die
eine in die Rechtssphäre der andern hineingreift, während das Wesen
der andern für dieß Hineingreifen eine Gränze, das ist ein Recht
fordert. Dieß Polizeirecht ist daher das erste charakteristische, formelle
Merkmal des Eintretens der staatsbürgerlichen Gesellschaftsordnung und
der Erhebung derselben über die ständische Gesellschaft. Und von da
an gilt nun für die gesammte historische Entwicklung des Polizeirechts
der Satz, daß dasselbe mit der Entwicklung der staatsbürgerlichen Ge-
sellschaft selbst fortschreitet, und somit den formellen Ausdruck des
öffentlichen Bewußtseins
von dem Werthe und dem Rechte, den
Forderungen und der Bestimmung der individuellen Freiheit
des Staatsbürgerthums
bildet.

Man kann nun in dieser historischen Entwicklung des Polizeirechts
zwei große Epochen unterscheiden, die wir wenigstens im Allgemeinen
charakterisiren müssen, um dem, was wir zu leisten haben, seine Stel-
lung anzuweisen.

Die erste Epoche beginnt mit dem sechzehnten Jahrhundert, und
geht dahin, die staatsbürgerliche Freiheit gegen die polizeiliche Funktion
dadurch zu sichern, daß zunächst die Aufgaben der letztern gesetzlich
festgestellt werden. Dieß ist bis zum Ende des vorigen Jahrhunderts
der Inhalt aller auf die Polizei bezüglichen Gesetze, und vermöge der-
selben erscheint das gesammte Verwaltungsrecht noch fast ausschließlich
in Polizeiverordnungen. In dem Sinne aber, daß diese Gesetze neben
den Verwaltungsaufgaben, welche die Polizei zu vollziehen hat, auch
eine gesetzliche Gränze für die Freiheit des Einzelnen gegenüber jener
Funktion der Polizei aufgestellt, und somit ein Polizeirecht in unserm
Sinne geschaffen hätten, gibt es noch kein Polizei- oder Verwal-
tungsrecht. Erst mit dem Ende des vorigen und dem Anfang unsers
Jahrhunderts beginnt die zweite Epoche. Diese beruht darauf, daß
sich der Gedanke der Verantwortlichkeit der gesammten Polizei
Bahn bricht und damit das Princip der persönlichen Freiheit gegen-
über der polizeilichen Funktion sich ein selbständiges Rechtssystem bildet.
Im Beginn dieser Epoche stehen wir, und das Folgende hat die Auf-
gabe zu zeigen, welche Gestalt diese Epoche in den verschiedenen Ländern

zur Geltung zu bringen, und damit für die geſammte Polizei in all
ihren Formen eine neue Epoche zu begründen, mußte ein neues Element
zur Geltung gelangen.

Dieß nun geſchieht mit dem Beginne der ſtaatsbürgerlichen Geſell-
ſchaft dadurch, daß der Staat ſich ſelbſtändig hinſtellt, von den an
ſich freien Einzelnen, die ihm angehören, ſcheidet, und ſomit in Staat
und Staatsbürger ſich zwei Perſönlichkeiten (Rechtsſubjekte ſagt man,
als ob es „Subjekte“ ohne Recht gäbe) gegenüber treten, von denen die
eine in die Rechtsſphäre der andern hineingreift, während das Weſen
der andern für dieß Hineingreifen eine Gränze, das iſt ein Recht
fordert. Dieß Polizeirecht iſt daher das erſte charakteriſtiſche, formelle
Merkmal des Eintretens der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaftsordnung und
der Erhebung derſelben über die ſtändiſche Geſellſchaft. Und von da
an gilt nun für die geſammte hiſtoriſche Entwicklung des Polizeirechts
der Satz, daß daſſelbe mit der Entwicklung der ſtaatsbürgerlichen Ge-
ſellſchaft ſelbſt fortſchreitet, und ſomit den formellen Ausdruck des
öffentlichen Bewußtſeins
von dem Werthe und dem Rechte, den
Forderungen und der Beſtimmung der individuellen Freiheit
des Staatsbürgerthums
bildet.

Man kann nun in dieſer hiſtoriſchen Entwicklung des Polizeirechts
zwei große Epochen unterſcheiden, die wir wenigſtens im Allgemeinen
charakteriſiren müſſen, um dem, was wir zu leiſten haben, ſeine Stel-
lung anzuweiſen.

Die erſte Epoche beginnt mit dem ſechzehnten Jahrhundert, und
geht dahin, die ſtaatsbürgerliche Freiheit gegen die polizeiliche Funktion
dadurch zu ſichern, daß zunächſt die Aufgaben der letztern geſetzlich
feſtgeſtellt werden. Dieß iſt bis zum Ende des vorigen Jahrhunderts
der Inhalt aller auf die Polizei bezüglichen Geſetze, und vermöge der-
ſelben erſcheint das geſammte Verwaltungsrecht noch faſt ausſchließlich
in Polizeiverordnungen. In dem Sinne aber, daß dieſe Geſetze neben
den Verwaltungsaufgaben, welche die Polizei zu vollziehen hat, auch
eine geſetzliche Gränze für die Freiheit des Einzelnen gegenüber jener
Funktion der Polizei aufgeſtellt, und ſomit ein Polizeirecht in unſerm
Sinne geſchaffen hätten, gibt es noch kein Polizei- oder Verwal-
tungsrecht. Erſt mit dem Ende des vorigen und dem Anfang unſers
Jahrhunderts beginnt die zweite Epoche. Dieſe beruht darauf, daß
ſich der Gedanke der Verantwortlichkeit der geſammten Polizei
Bahn bricht und damit das Princip der perſönlichen Freiheit gegen-
über der polizeilichen Funktion ſich ein ſelbſtändiges Rechtsſyſtem bildet.
Im Beginn dieſer Epoche ſtehen wir, und das Folgende hat die Auf-
gabe zu zeigen, welche Geſtalt dieſe Epoche in den verſchiedenen Ländern

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[8/0030] zur Geltung zu bringen, und damit für die geſammte Polizei in all ihren Formen eine neue Epoche zu begründen, mußte ein neues Element zur Geltung gelangen. Dieß nun geſchieht mit dem Beginne der ſtaatsbürgerlichen Geſell- ſchaft dadurch, daß der Staat ſich ſelbſtändig hinſtellt, von den an ſich freien Einzelnen, die ihm angehören, ſcheidet, und ſomit in Staat und Staatsbürger ſich zwei Perſönlichkeiten (Rechtsſubjekte ſagt man, als ob es „Subjekte“ ohne Recht gäbe) gegenüber treten, von denen die eine in die Rechtsſphäre der andern hineingreift, während das Weſen der andern für dieß Hineingreifen eine Gränze, das iſt ein Recht fordert. Dieß Polizeirecht iſt daher das erſte charakteriſtiſche, formelle Merkmal des Eintretens der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaftsordnung und der Erhebung derſelben über die ſtändiſche Geſellſchaft. Und von da an gilt nun für die geſammte hiſtoriſche Entwicklung des Polizeirechts der Satz, daß daſſelbe mit der Entwicklung der ſtaatsbürgerlichen Ge- ſellſchaft ſelbſt fortſchreitet, und ſomit den formellen Ausdruck des öffentlichen Bewußtſeins von dem Werthe und dem Rechte, den Forderungen und der Beſtimmung der individuellen Freiheit des Staatsbürgerthums bildet. Man kann nun in dieſer hiſtoriſchen Entwicklung des Polizeirechts zwei große Epochen unterſcheiden, die wir wenigſtens im Allgemeinen charakteriſiren müſſen, um dem, was wir zu leiſten haben, ſeine Stel- lung anzuweiſen. Die erſte Epoche beginnt mit dem ſechzehnten Jahrhundert, und geht dahin, die ſtaatsbürgerliche Freiheit gegen die polizeiliche Funktion dadurch zu ſichern, daß zunächſt die Aufgaben der letztern geſetzlich feſtgeſtellt werden. Dieß iſt bis zum Ende des vorigen Jahrhunderts der Inhalt aller auf die Polizei bezüglichen Geſetze, und vermöge der- ſelben erſcheint das geſammte Verwaltungsrecht noch faſt ausſchließlich in Polizeiverordnungen. In dem Sinne aber, daß dieſe Geſetze neben den Verwaltungsaufgaben, welche die Polizei zu vollziehen hat, auch eine geſetzliche Gränze für die Freiheit des Einzelnen gegenüber jener Funktion der Polizei aufgeſtellt, und ſomit ein Polizeirecht in unſerm Sinne geſchaffen hätten, gibt es noch kein Polizei- oder Verwal- tungsrecht. Erſt mit dem Ende des vorigen und dem Anfang unſers Jahrhunderts beginnt die zweite Epoche. Dieſe beruht darauf, daß ſich der Gedanke der Verantwortlichkeit der geſammten Polizei Bahn bricht und damit das Princip der perſönlichen Freiheit gegen- über der polizeilichen Funktion ſich ein ſelbſtändiges Rechtsſyſtem bildet. Im Beginn dieſer Epoche ſtehen wir, und das Folgende hat die Auf- gabe zu zeigen, welche Geſtalt dieſe Epoche in den verſchiedenen Ländern

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Zitationshilfe: Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 4. Stuttgart, 1867, S. 8. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre04_1867/30>, abgerufen am 20.04.2024.