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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 3 (2,2). Stuttgart, 1867.

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lichen Lebens, namentlich in dem Gebiete der Selbstverwaltung. Es
ist jetzt viel schwerer, das geltende Recht zu übersehen, aber viel nütz-
licher für jede einzelne Aufgabe, es zu studiren. Es hat kein legales
System mehr, aber das wissenschaftliche System ist dafür unendlich viel
einfacher und klarer. Der Fortschritt ist ein großer und unverkennbarer;
aber dennoch ist das letzte Ziel nur erst angebahnt -- die Bethätigung
der Wahrheit, daß namentlich in der Gesundheitspflege sich auch die
besten Gesetze nicht selber vollziehen, sondern ihren Werth erst durch
energische Thätigkeit der Selbstverwaltung finden. Der Schwer-
punkt des Gesundheitswesens hat sich dadurch geändert; er ist von der
Staatsregierung in das Gemeindewesen übergegangen oder gewissermaßen
dahin zurückgekehrt; und in der That liegt hier die Zukunft dieser so
unendlichen Aufgabe.

Diese gesammte gesetzgeberische und praktische Thätigkeit ist nun von
der ärztlichen Literatur auf jedem Punkte theils angeregt, theils beherrscht,
was in der Sache selbst von höchstem Nutzen war, dagegen in der Form
manches verwirrt hat. Der Mann, mit dem sich definitiv das Gesund-
heitswesen von der gerichtlichen Medicin scheidet, ist Peter Frank in
seinem: System einer vollständigen medicinischen Polizei, erste Auflage
1779 -- sieben Bände bis 1817, als dessen spezieller Vorgänger in
dieser Beziehung wohl Hebenstreit, Anthropologia forensis 1763 an-
gesehen werden muß. Von Frank aus entwickelt sich eine doppelte
Richtung. Einmal entsteht hinter ihm der Gedanke, die ganze "medi-
cinische Polizei" als Aufgabe der Verwaltung noch concreter zu for-
muliren mit dem Bestreben, das ganze Gebiet in Einem Werk zu
umfassen, und wo möglich die Grundlage einer definitiven Organisation
und Codification für die Verwaltung aufzustellen; namentlich Erhardt,
Theorie der Gesetze, die sich auf das körperliche Wohlsein der Bürger
beziehen, 1800. Schütz, Medicinalpolizeiverfassung, 1808. Stoll,
staatswissenschaftliche Untersuchungen über das Medicinalwesen I.--III.,
1812, sehr viel Quellenstudium. Zuletzt noch Wildberg, Entwurf
eines Codex medico forensis, 1842. Der Einfluß, den die großen
Medicinalordnungen des vorigen Jahrhunderts auf diese, allerdings for-
mell erfolglosen Versuche haben, ist unverkennbar. Ihr Werth besteht aber
wohl wesentlich wiederum in dem, was sie für die Verwaltung hervor-
rufen. Denn einerseits waren sie es, welche den einzelnen Gesetzen
und Verordnungen zum Grunde gelegt wurden, andererseits führten sie
das Gesundheitswesen in das Fachstudium an den Universitäten neben
der gerichtlichen Medicin ein, und haben dadurch mittelbar viel genützt.
Andererseits haben sie demselben einen dauernden und systematischen
Platz in der Verwaltungslehre gegeben, die wieder hier wie immer

lichen Lebens, namentlich in dem Gebiete der Selbſtverwaltung. Es
iſt jetzt viel ſchwerer, das geltende Recht zu überſehen, aber viel nütz-
licher für jede einzelne Aufgabe, es zu ſtudiren. Es hat kein legales
Syſtem mehr, aber das wiſſenſchaftliche Syſtem iſt dafür unendlich viel
einfacher und klarer. Der Fortſchritt iſt ein großer und unverkennbarer;
aber dennoch iſt das letzte Ziel nur erſt angebahnt — die Bethätigung
der Wahrheit, daß namentlich in der Geſundheitspflege ſich auch die
beſten Geſetze nicht ſelber vollziehen, ſondern ihren Werth erſt durch
energiſche Thätigkeit der Selbſtverwaltung finden. Der Schwer-
punkt des Geſundheitsweſens hat ſich dadurch geändert; er iſt von der
Staatsregierung in das Gemeindeweſen übergegangen oder gewiſſermaßen
dahin zurückgekehrt; und in der That liegt hier die Zukunft dieſer ſo
unendlichen Aufgabe.

Dieſe geſammte geſetzgeberiſche und praktiſche Thätigkeit iſt nun von
der ärztlichen Literatur auf jedem Punkte theils angeregt, theils beherrſcht,
was in der Sache ſelbſt von höchſtem Nutzen war, dagegen in der Form
manches verwirrt hat. Der Mann, mit dem ſich definitiv das Geſund-
heitsweſen von der gerichtlichen Medicin ſcheidet, iſt Peter Frank in
ſeinem: Syſtem einer vollſtändigen mediciniſchen Polizei, erſte Auflage
1779 — ſieben Bände bis 1817, als deſſen ſpezieller Vorgänger in
dieſer Beziehung wohl Hebenſtreit, Anthropologia forensis 1763 an-
geſehen werden muß. Von Frank aus entwickelt ſich eine doppelte
Richtung. Einmal entſteht hinter ihm der Gedanke, die ganze „medi-
ciniſche Polizei“ als Aufgabe der Verwaltung noch concreter zu for-
muliren mit dem Beſtreben, das ganze Gebiet in Einem Werk zu
umfaſſen, und wo möglich die Grundlage einer definitiven Organiſation
und Codification für die Verwaltung aufzuſtellen; namentlich Erhardt,
Theorie der Geſetze, die ſich auf das körperliche Wohlſein der Bürger
beziehen, 1800. Schütz, Medicinalpolizeiverfaſſung, 1808. Stoll,
ſtaatswiſſenſchaftliche Unterſuchungen über das Medicinalweſen I.III.,
1812, ſehr viel Quellenſtudium. Zuletzt noch Wildberg, Entwurf
eines Codex medico forensis, 1842. Der Einfluß, den die großen
Medicinalordnungen des vorigen Jahrhunderts auf dieſe, allerdings for-
mell erfolgloſen Verſuche haben, iſt unverkennbar. Ihr Werth beſteht aber
wohl weſentlich wiederum in dem, was ſie für die Verwaltung hervor-
rufen. Denn einerſeits waren ſie es, welche den einzelnen Geſetzen
und Verordnungen zum Grunde gelegt wurden, andererſeits führten ſie
das Geſundheitsweſen in das Fachſtudium an den Univerſitäten neben
der gerichtlichen Medicin ein, und haben dadurch mittelbar viel genützt.
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Platz in der Verwaltungslehre gegeben, die wieder hier wie immer

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[16/0032] lichen Lebens, namentlich in dem Gebiete der Selbſtverwaltung. Es iſt jetzt viel ſchwerer, das geltende Recht zu überſehen, aber viel nütz- licher für jede einzelne Aufgabe, es zu ſtudiren. Es hat kein legales Syſtem mehr, aber das wiſſenſchaftliche Syſtem iſt dafür unendlich viel einfacher und klarer. Der Fortſchritt iſt ein großer und unverkennbarer; aber dennoch iſt das letzte Ziel nur erſt angebahnt — die Bethätigung der Wahrheit, daß namentlich in der Geſundheitspflege ſich auch die beſten Geſetze nicht ſelber vollziehen, ſondern ihren Werth erſt durch energiſche Thätigkeit der Selbſtverwaltung finden. Der Schwer- punkt des Geſundheitsweſens hat ſich dadurch geändert; er iſt von der Staatsregierung in das Gemeindeweſen übergegangen oder gewiſſermaßen dahin zurückgekehrt; und in der That liegt hier die Zukunft dieſer ſo unendlichen Aufgabe. Dieſe geſammte geſetzgeberiſche und praktiſche Thätigkeit iſt nun von der ärztlichen Literatur auf jedem Punkte theils angeregt, theils beherrſcht, was in der Sache ſelbſt von höchſtem Nutzen war, dagegen in der Form manches verwirrt hat. Der Mann, mit dem ſich definitiv das Geſund- heitsweſen von der gerichtlichen Medicin ſcheidet, iſt Peter Frank in ſeinem: Syſtem einer vollſtändigen mediciniſchen Polizei, erſte Auflage 1779 — ſieben Bände bis 1817, als deſſen ſpezieller Vorgänger in dieſer Beziehung wohl Hebenſtreit, Anthropologia forensis 1763 an- geſehen werden muß. Von Frank aus entwickelt ſich eine doppelte Richtung. Einmal entſteht hinter ihm der Gedanke, die ganze „medi- ciniſche Polizei“ als Aufgabe der Verwaltung noch concreter zu for- muliren mit dem Beſtreben, das ganze Gebiet in Einem Werk zu umfaſſen, und wo möglich die Grundlage einer definitiven Organiſation und Codification für die Verwaltung aufzuſtellen; namentlich Erhardt, Theorie der Geſetze, die ſich auf das körperliche Wohlſein der Bürger beziehen, 1800. Schütz, Medicinalpolizeiverfaſſung, 1808. Stoll, ſtaatswiſſenſchaftliche Unterſuchungen über das Medicinalweſen I.—III., 1812, ſehr viel Quellenſtudium. Zuletzt noch Wildberg, Entwurf eines Codex medico forensis, 1842. Der Einfluß, den die großen Medicinalordnungen des vorigen Jahrhunderts auf dieſe, allerdings for- mell erfolgloſen Verſuche haben, iſt unverkennbar. Ihr Werth beſteht aber wohl weſentlich wiederum in dem, was ſie für die Verwaltung hervor- rufen. Denn einerſeits waren ſie es, welche den einzelnen Geſetzen und Verordnungen zum Grunde gelegt wurden, andererſeits führten ſie das Geſundheitsweſen in das Fachſtudium an den Univerſitäten neben der gerichtlichen Medicin ein, und haben dadurch mittelbar viel genützt. Andererſeits haben ſie demſelben einen dauernden und ſyſtematiſchen Platz in der Verwaltungslehre gegeben, die wieder hier wie immer

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Zitationshilfe: Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 3 (2,2). Stuttgart, 1867, S. 16. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre03_1867/32>, abgerufen am 25.04.2024.