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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 3 (2,2). Stuttgart, 1867.

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IV. Die gegenwärtige Gestalt des öffentlichen Gesundheitswesens.

Auch in dem Gesundheitswesen tritt nun die neue Zeit aus der
alten Auffassung hinaus, und bildet sich neue Bahnen und neue Ord-
nungen. Es ist sehr leicht, den allgemeinen Charakter dieser neuen
Epoche zu bezeichnen, aber es ist sehr schwer, den großen Reichthum
von einzelnen Bestimmungen, die sich aus derselben entwickeln, in ein
klares und einheitliches Bild zusammenzufassen.

Der Charakter der gegenwärtigen Zeit beruht zunächst und vor
allem auf dem allgemeinen und höhern Standpunkt, den einerseits die
Medicin als Wissenschaft, und andererseits die Verwaltung als Aus-
druck des allgemeinen staatlichen Bewußtseins einnehmen.

Die medicinische Wissenschaft nämlich gelangte schon im vorigen
Jahrhundert zu der Erkenntniß, daß die Heilung der Krankheiten bei
all ihrer Wichtigkeit denn doch nur ein untergeordnetes Moment und
daß sie im Grunde auch nicht fähig sei, der unmittelbaren Thätigkeit
der Verwaltung unterworfen zu werden. Sie erkennt mehr und mehr,
daß während die Heilkunde es nur mit dem Einzelnen zu thun habe,
die allgemeine Thätigkeit der Verwaltung sich vielmehr statt der Heilung
der Krankheiten den Bedingungen der allgemeinen Gesundheit zuwen-
den müsse. Sie nimmt in diesem Sinne, wenn auch oft langsam und
widerstrebend, die großen neu entdeckten Thatsachen der Naturlehre in
sich auf und wendet sich dem causalen Verhältniß zwischen allgemeinen
Zuständen des öffentlichen Lebens und der Gesundheit der Individuen
zu. Aus der bisher vorwiegend therapeutischen Auffassung der ärztli-
chen Aufgabe im öffentlichen Leben wird allmählig eine physiologische.
Eine Reihe von zum Theil wunderlichen Vorurtheilen verschwindet;
neue Krankheitsformen fordern neue Grundsätze für ihre Behandlung;
vor allen Dingen aber erkennt die neue Wissenschaft der Heilkunde, daß
in den meisten Fällen die Krankheiten der Menschen nur Symptome
und Consequenzen gewisser Lebensverhältnisse sind, und daß man da-
her, um jenen zu wehren, sich mit diesen beschäftigen müsse. Das
Außerordentliche verliert seinen Glanz und seinen Werth auch hier, und
die Wissenschaft wendet sich dem Täglichen und Gewöhnlichen zu, auf
jedem Schritt weiter neue Bestätigungen ihrer Ansicht findend, daß die
wahre Quelle aller Gesundheit und Krankheit in den kleinen, aber be-
ständig wirkenden Kräften des täglichen Lebens, den elementaren Zu-
ständen der Bevölkerung, Luft, Licht, Wohnung, Bewegung, Wasser
und Brod zu finden sei. Und jetzt zeigt sich die heilsame Wirkung der
Verbindung der Wissenschaft mit der Verwaltung in den Medicinal-
ordnungen des vorigen Jahrhunderts. Sie ist es, welche die letztere

IV. Die gegenwärtige Geſtalt des öffentlichen Geſundheitsweſens.

Auch in dem Geſundheitsweſen tritt nun die neue Zeit aus der
alten Auffaſſung hinaus, und bildet ſich neue Bahnen und neue Ord-
nungen. Es iſt ſehr leicht, den allgemeinen Charakter dieſer neuen
Epoche zu bezeichnen, aber es iſt ſehr ſchwer, den großen Reichthum
von einzelnen Beſtimmungen, die ſich aus derſelben entwickeln, in ein
klares und einheitliches Bild zuſammenzufaſſen.

Der Charakter der gegenwärtigen Zeit beruht zunächſt und vor
allem auf dem allgemeinen und höhern Standpunkt, den einerſeits die
Medicin als Wiſſenſchaft, und andererſeits die Verwaltung als Aus-
druck des allgemeinen ſtaatlichen Bewußtſeins einnehmen.

Die mediciniſche Wiſſenſchaft nämlich gelangte ſchon im vorigen
Jahrhundert zu der Erkenntniß, daß die Heilung der Krankheiten bei
all ihrer Wichtigkeit denn doch nur ein untergeordnetes Moment und
daß ſie im Grunde auch nicht fähig ſei, der unmittelbaren Thätigkeit
der Verwaltung unterworfen zu werden. Sie erkennt mehr und mehr,
daß während die Heilkunde es nur mit dem Einzelnen zu thun habe,
die allgemeine Thätigkeit der Verwaltung ſich vielmehr ſtatt der Heilung
der Krankheiten den Bedingungen der allgemeinen Geſundheit zuwen-
den müſſe. Sie nimmt in dieſem Sinne, wenn auch oft langſam und
widerſtrebend, die großen neu entdeckten Thatſachen der Naturlehre in
ſich auf und wendet ſich dem cauſalen Verhältniß zwiſchen allgemeinen
Zuſtänden des öffentlichen Lebens und der Geſundheit der Individuen
zu. Aus der bisher vorwiegend therapeutiſchen Auffaſſung der ärztli-
chen Aufgabe im öffentlichen Leben wird allmählig eine phyſiologiſche.
Eine Reihe von zum Theil wunderlichen Vorurtheilen verſchwindet;
neue Krankheitsformen fordern neue Grundſätze für ihre Behandlung;
vor allen Dingen aber erkennt die neue Wiſſenſchaft der Heilkunde, daß
in den meiſten Fällen die Krankheiten der Menſchen nur Symptome
und Conſequenzen gewiſſer Lebensverhältniſſe ſind, und daß man da-
her, um jenen zu wehren, ſich mit dieſen beſchäftigen müſſe. Das
Außerordentliche verliert ſeinen Glanz und ſeinen Werth auch hier, und
die Wiſſenſchaft wendet ſich dem Täglichen und Gewöhnlichen zu, auf
jedem Schritt weiter neue Beſtätigungen ihrer Anſicht findend, daß die
wahre Quelle aller Geſundheit und Krankheit in den kleinen, aber be-
ſtändig wirkenden Kräften des täglichen Lebens, den elementaren Zu-
ſtänden der Bevölkerung, Luft, Licht, Wohnung, Bewegung, Waſſer
und Brod zu finden ſei. Und jetzt zeigt ſich die heilſame Wirkung der
Verbindung der Wiſſenſchaft mit der Verwaltung in den Medicinal-
ordnungen des vorigen Jahrhunderts. Sie iſt es, welche die letztere

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[14/0030] IV. Die gegenwärtige Geſtalt des öffentlichen Geſundheitsweſens. Auch in dem Geſundheitsweſen tritt nun die neue Zeit aus der alten Auffaſſung hinaus, und bildet ſich neue Bahnen und neue Ord- nungen. Es iſt ſehr leicht, den allgemeinen Charakter dieſer neuen Epoche zu bezeichnen, aber es iſt ſehr ſchwer, den großen Reichthum von einzelnen Beſtimmungen, die ſich aus derſelben entwickeln, in ein klares und einheitliches Bild zuſammenzufaſſen. Der Charakter der gegenwärtigen Zeit beruht zunächſt und vor allem auf dem allgemeinen und höhern Standpunkt, den einerſeits die Medicin als Wiſſenſchaft, und andererſeits die Verwaltung als Aus- druck des allgemeinen ſtaatlichen Bewußtſeins einnehmen. Die mediciniſche Wiſſenſchaft nämlich gelangte ſchon im vorigen Jahrhundert zu der Erkenntniß, daß die Heilung der Krankheiten bei all ihrer Wichtigkeit denn doch nur ein untergeordnetes Moment und daß ſie im Grunde auch nicht fähig ſei, der unmittelbaren Thätigkeit der Verwaltung unterworfen zu werden. Sie erkennt mehr und mehr, daß während die Heilkunde es nur mit dem Einzelnen zu thun habe, die allgemeine Thätigkeit der Verwaltung ſich vielmehr ſtatt der Heilung der Krankheiten den Bedingungen der allgemeinen Geſundheit zuwen- den müſſe. Sie nimmt in dieſem Sinne, wenn auch oft langſam und widerſtrebend, die großen neu entdeckten Thatſachen der Naturlehre in ſich auf und wendet ſich dem cauſalen Verhältniß zwiſchen allgemeinen Zuſtänden des öffentlichen Lebens und der Geſundheit der Individuen zu. Aus der bisher vorwiegend therapeutiſchen Auffaſſung der ärztli- chen Aufgabe im öffentlichen Leben wird allmählig eine phyſiologiſche. Eine Reihe von zum Theil wunderlichen Vorurtheilen verſchwindet; neue Krankheitsformen fordern neue Grundſätze für ihre Behandlung; vor allen Dingen aber erkennt die neue Wiſſenſchaft der Heilkunde, daß in den meiſten Fällen die Krankheiten der Menſchen nur Symptome und Conſequenzen gewiſſer Lebensverhältniſſe ſind, und daß man da- her, um jenen zu wehren, ſich mit dieſen beſchäftigen müſſe. Das Außerordentliche verliert ſeinen Glanz und ſeinen Werth auch hier, und die Wiſſenſchaft wendet ſich dem Täglichen und Gewöhnlichen zu, auf jedem Schritt weiter neue Beſtätigungen ihrer Anſicht findend, daß die wahre Quelle aller Geſundheit und Krankheit in den kleinen, aber be- ſtändig wirkenden Kräften des täglichen Lebens, den elementaren Zu- ſtänden der Bevölkerung, Luft, Licht, Wohnung, Bewegung, Waſſer und Brod zu finden ſei. Und jetzt zeigt ſich die heilſame Wirkung der Verbindung der Wiſſenſchaft mit der Verwaltung in den Medicinal- ordnungen des vorigen Jahrhunderts. Sie iſt es, welche die letztere

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Zitationshilfe: Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 3 (2,2). Stuttgart, 1867, S. 14. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre03_1867/30>, abgerufen am 19.04.2024.