Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Stein, Lorenz von: Handbuch der Verwaltungslehre und des Verwaltungsrechts: mit Vergleichung der Literatur und Gesetzgebung von Frankreich, England und Deutschland; als Grundlage für Vorlesungen. Stuttgart, 1870.

Bild:
<< vorherige Seite

Diesen Rechten und Pflichten der Regierung entspricht nun von
Seiten des Einzelnen der Gehorsam, der, in sofern seine Gränzen
durch das Gesetz gegeben sind, der verfassungsmäßige Gehorsam
ist. Der Widerstand ist an und für sich ein Unrecht; dagegen ist das
Recht des passiven Widerstandes ein organisches Recht, und der Ein-
zelne haftet dabei seinerseits dafür, daß er zu demselben berechtigt
war oder nicht.

B. Die Selbstverwaltung.
I. Begriff und Organismus.

Die Selbstverwaltung ist die erste Form, in welcher die Idee der
freien Verwaltung als der organisirten und berechtigten Theilnahme
der Staatsbürger an der Funktion der Vollziehung im Allgemeinen,
in der Verwaltung im Besondern zur Verwirklichung gelangt. Sie
entsteht dadurch, daß nicht so sehr der freie und selbstthätige Wille des
Einzelnen, als vielmehr die Natur gegebener Verhältnisse jene Theil-
nahme erzeugt und nothwendig macht.

Es folgt daraus, daß das System dieser Selbstverwaltung auf dem
System eben dieser natürlichen Faktoren beruht, welche sie selbst erzeu-
gen. Man muß deßhalb davon ausgehen, daß die Selbstverwaltung
kein einfacher Begriff ist, und daher auch keine einfache Funktion hat
und haben kann; zugleich aber auch, daß sie wie ihre natürlichen Grund-
lagen den ganzen Staat umschließt, und somit ein zweites organisches
System der Vollziehung neben dem der Regierung bildet, aus deren
gegenseitigen Berührung dann das Recht beider hervorgeht.

Zwei große Gebiete des wirklichen Lebens sind es nun, mit
denen die Vollziehung zu thun hat; und die Selbstverwaltung hat da-
her auch im allgemeinsten Sinne zwei Grundformen. Das erste Gebiet
ist das der Interessen, das zweite ist das des festen, begränzten
Grundbesitzes. Die Organisation der Betheiligung des Staats-
bürgerthums an der Vollziehung in Beziehung auf die Interessen nen-
nen wir die Vertretungen, in Beziehung auf den örtlich begränzten
Grundbesitz die eigentliche Selbstverwaltung. Jede dieser Organi-
sationen bildet dann, für ein bestimmtes Gebiet thätig, das was
wir den Selbstverwaltungskörper nennen.

Die Organisation aller dieser Selbstverwaltungskörper beruht ge-
meinschaftlich auf dem Princip, die Thätigkeit des Einzelnen an den
Funktion der Vollziehung zuzulassen, während sie im Ganzen des Staates
als selbständige Organe, in ihren höheren Stufen als selbständige
Persönlichkeit dastehen. Die Verwirklichung dieses Princips geschieht

Dieſen Rechten und Pflichten der Regierung entſpricht nun von
Seiten des Einzelnen der Gehorſam, der, in ſofern ſeine Gränzen
durch das Geſetz gegeben ſind, der verfaſſungsmäßige Gehorſam
iſt. Der Widerſtand iſt an und für ſich ein Unrecht; dagegen iſt das
Recht des paſſiven Widerſtandes ein organiſches Recht, und der Ein-
zelne haftet dabei ſeinerſeits dafür, daß er zu demſelben berechtigt
war oder nicht.

B. Die Selbſtverwaltung.
I. Begriff und Organismus.

Die Selbſtverwaltung iſt die erſte Form, in welcher die Idee der
freien Verwaltung als der organiſirten und berechtigten Theilnahme
der Staatsbürger an der Funktion der Vollziehung im Allgemeinen,
in der Verwaltung im Beſondern zur Verwirklichung gelangt. Sie
entſteht dadurch, daß nicht ſo ſehr der freie und ſelbſtthätige Wille des
Einzelnen, als vielmehr die Natur gegebener Verhältniſſe jene Theil-
nahme erzeugt und nothwendig macht.

Es folgt daraus, daß das Syſtem dieſer Selbſtverwaltung auf dem
Syſtem eben dieſer natürlichen Faktoren beruht, welche ſie ſelbſt erzeu-
gen. Man muß deßhalb davon ausgehen, daß die Selbſtverwaltung
kein einfacher Begriff iſt, und daher auch keine einfache Funktion hat
und haben kann; zugleich aber auch, daß ſie wie ihre natürlichen Grund-
lagen den ganzen Staat umſchließt, und ſomit ein zweites organiſches
Syſtem der Vollziehung neben dem der Regierung bildet, aus deren
gegenſeitigen Berührung dann das Recht beider hervorgeht.

Zwei große Gebiete des wirklichen Lebens ſind es nun, mit
denen die Vollziehung zu thun hat; und die Selbſtverwaltung hat da-
her auch im allgemeinſten Sinne zwei Grundformen. Das erſte Gebiet
iſt das der Intereſſen, das zweite iſt das des feſten, begränzten
Grundbeſitzes. Die Organiſation der Betheiligung des Staats-
bürgerthums an der Vollziehung in Beziehung auf die Intereſſen nen-
nen wir die Vertretungen, in Beziehung auf den örtlich begränzten
Grundbeſitz die eigentliche Selbſtverwaltung. Jede dieſer Organi-
ſationen bildet dann, für ein beſtimmtes Gebiet thätig, das was
wir den Selbſtverwaltungskörper nennen.

Die Organiſation aller dieſer Selbſtverwaltungskörper beruht ge-
meinſchaftlich auf dem Princip, die Thätigkeit des Einzelnen an den
Funktion der Vollziehung zuzulaſſen, während ſie im Ganzen des Staates
als ſelbſtändige Organe, in ihren höheren Stufen als ſelbſtändige
Perſönlichkeit daſtehen. Die Verwirklichung dieſes Princips geſchieht

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <pb facs="#f0049" n="25"/>
                <p>Die&#x017F;en Rechten und Pflichten der Regierung ent&#x017F;pricht nun von<lb/>
Seiten des Einzelnen der <hi rendition="#g">Gehor&#x017F;am</hi>, der, in &#x017F;ofern &#x017F;eine Gränzen<lb/>
durch das Ge&#x017F;etz gegeben &#x017F;ind, der <hi rendition="#g">verfa&#x017F;&#x017F;ungsmäßige</hi> Gehor&#x017F;am<lb/>
i&#x017F;t. Der Wider&#x017F;tand i&#x017F;t an und für &#x017F;ich ein Unrecht; dagegen i&#x017F;t das<lb/>
Recht des pa&#x017F;&#x017F;iven Wider&#x017F;tandes ein organi&#x017F;ches Recht, und der Ein-<lb/>
zelne <hi rendition="#g">haftet</hi> dabei &#x017F;einer&#x017F;eits dafür, daß er zu dem&#x017F;elben berechtigt<lb/>
war oder nicht.</p>
              </div>
            </div><lb/>
            <div n="4">
              <head> <hi rendition="#b"><hi rendition="#aq">B.</hi><hi rendition="#g">Die Selb&#x017F;tverwaltung</hi>.</hi> </head><lb/>
              <div n="5">
                <head> <hi rendition="#b"><hi rendition="#aq">I.</hi> Begriff und Organismus.</hi> </head><lb/>
                <p>Die Selb&#x017F;tverwaltung i&#x017F;t die er&#x017F;te Form, in welcher die Idee der<lb/>
freien Verwaltung als der organi&#x017F;irten und berechtigten Theilnahme<lb/>
der Staatsbürger an der Funktion der Vollziehung im Allgemeinen,<lb/>
in der Verwaltung im Be&#x017F;ondern zur Verwirklichung gelangt. Sie<lb/>
ent&#x017F;teht dadurch, daß nicht &#x017F;o &#x017F;ehr der freie und &#x017F;elb&#x017F;tthätige Wille des<lb/>
Einzelnen, als vielmehr die Natur gegebener Verhältni&#x017F;&#x017F;e jene Theil-<lb/>
nahme erzeugt und nothwendig macht.</p><lb/>
                <p>Es folgt daraus, daß das Sy&#x017F;tem die&#x017F;er Selb&#x017F;tverwaltung auf dem<lb/>
Sy&#x017F;tem eben die&#x017F;er natürlichen Faktoren beruht, welche &#x017F;ie &#x017F;elb&#x017F;t erzeu-<lb/>
gen. Man muß deßhalb davon ausgehen, daß die Selb&#x017F;tverwaltung<lb/><hi rendition="#g">kein</hi> einfacher Begriff i&#x017F;t, und daher auch keine einfache Funktion hat<lb/>
und haben kann; zugleich aber auch, daß &#x017F;ie wie ihre natürlichen Grund-<lb/>
lagen den <hi rendition="#g">ganzen</hi> Staat um&#x017F;chließt, und &#x017F;omit ein zweites organi&#x017F;ches<lb/>
Sy&#x017F;tem der Vollziehung neben dem der Regierung bildet, aus deren<lb/>
gegen&#x017F;eitigen Berührung dann das Recht beider hervorgeht.</p><lb/>
                <p>Zwei große Gebiete des wirklichen Lebens &#x017F;ind es nun, mit<lb/>
denen die Vollziehung zu thun hat; und die Selb&#x017F;tverwaltung hat da-<lb/>
her auch im allgemein&#x017F;ten Sinne zwei Grundformen. Das er&#x017F;te Gebiet<lb/>
i&#x017F;t das der <hi rendition="#g">Intere&#x017F;&#x017F;en</hi>, das zweite i&#x017F;t das des fe&#x017F;ten, begränzten<lb/><hi rendition="#g">Grundbe&#x017F;itzes</hi>. Die Organi&#x017F;ation der Betheiligung des Staats-<lb/>
bürgerthums an der Vollziehung in Beziehung auf die Intere&#x017F;&#x017F;en nen-<lb/>
nen wir die <hi rendition="#g">Vertretungen</hi>, in Beziehung auf den örtlich begränzten<lb/>
Grundbe&#x017F;itz die <hi rendition="#g">eigentliche</hi> Selb&#x017F;tverwaltung. Jede die&#x017F;er Organi-<lb/>
&#x017F;ationen bildet dann, für ein be&#x017F;timmtes Gebiet thätig, das was<lb/>
wir den <hi rendition="#g">Selb&#x017F;tverwaltungskörper</hi> nennen.</p><lb/>
                <p>Die Organi&#x017F;ation aller die&#x017F;er Selb&#x017F;tverwaltungskörper beruht ge-<lb/>
mein&#x017F;chaftlich auf dem Princip, die Thätigkeit des Einzelnen an den<lb/>
Funktion der Vollziehung zuzula&#x017F;&#x017F;en, während &#x017F;ie im Ganzen des Staates<lb/>
als &#x017F;elb&#x017F;tändige Organe, in ihren höheren Stufen als &#x017F;elb&#x017F;tändige<lb/>
Per&#x017F;önlichkeit da&#x017F;tehen. Die Verwirklichung die&#x017F;es Princips ge&#x017F;chieht<lb/></p>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[25/0049] Dieſen Rechten und Pflichten der Regierung entſpricht nun von Seiten des Einzelnen der Gehorſam, der, in ſofern ſeine Gränzen durch das Geſetz gegeben ſind, der verfaſſungsmäßige Gehorſam iſt. Der Widerſtand iſt an und für ſich ein Unrecht; dagegen iſt das Recht des paſſiven Widerſtandes ein organiſches Recht, und der Ein- zelne haftet dabei ſeinerſeits dafür, daß er zu demſelben berechtigt war oder nicht. B. Die Selbſtverwaltung. I. Begriff und Organismus. Die Selbſtverwaltung iſt die erſte Form, in welcher die Idee der freien Verwaltung als der organiſirten und berechtigten Theilnahme der Staatsbürger an der Funktion der Vollziehung im Allgemeinen, in der Verwaltung im Beſondern zur Verwirklichung gelangt. Sie entſteht dadurch, daß nicht ſo ſehr der freie und ſelbſtthätige Wille des Einzelnen, als vielmehr die Natur gegebener Verhältniſſe jene Theil- nahme erzeugt und nothwendig macht. Es folgt daraus, daß das Syſtem dieſer Selbſtverwaltung auf dem Syſtem eben dieſer natürlichen Faktoren beruht, welche ſie ſelbſt erzeu- gen. Man muß deßhalb davon ausgehen, daß die Selbſtverwaltung kein einfacher Begriff iſt, und daher auch keine einfache Funktion hat und haben kann; zugleich aber auch, daß ſie wie ihre natürlichen Grund- lagen den ganzen Staat umſchließt, und ſomit ein zweites organiſches Syſtem der Vollziehung neben dem der Regierung bildet, aus deren gegenſeitigen Berührung dann das Recht beider hervorgeht. Zwei große Gebiete des wirklichen Lebens ſind es nun, mit denen die Vollziehung zu thun hat; und die Selbſtverwaltung hat da- her auch im allgemeinſten Sinne zwei Grundformen. Das erſte Gebiet iſt das der Intereſſen, das zweite iſt das des feſten, begränzten Grundbeſitzes. Die Organiſation der Betheiligung des Staats- bürgerthums an der Vollziehung in Beziehung auf die Intereſſen nen- nen wir die Vertretungen, in Beziehung auf den örtlich begränzten Grundbeſitz die eigentliche Selbſtverwaltung. Jede dieſer Organi- ſationen bildet dann, für ein beſtimmtes Gebiet thätig, das was wir den Selbſtverwaltungskörper nennen. Die Organiſation aller dieſer Selbſtverwaltungskörper beruht ge- meinſchaftlich auf dem Princip, die Thätigkeit des Einzelnen an den Funktion der Vollziehung zuzulaſſen, während ſie im Ganzen des Staates als ſelbſtändige Organe, in ihren höheren Stufen als ſelbſtändige Perſönlichkeit daſtehen. Die Verwirklichung dieſes Princips geſchieht

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/stein_handbuch_1870
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/stein_handbuch_1870/49
Zitationshilfe: Stein, Lorenz von: Handbuch der Verwaltungslehre und des Verwaltungsrechts: mit Vergleichung der Literatur und Gesetzgebung von Frankreich, England und Deutschland; als Grundlage für Vorlesungen. Stuttgart, 1870, S. 25. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_handbuch_1870/49>, abgerufen am 24.04.2024.