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Stein, Lorenz von: Handbuch der Verwaltungslehre und des Verwaltungsrechts: mit Vergleichung der Literatur und Gesetzgebung von Frankreich, England und Deutschland; als Grundlage für Vorlesungen. Stuttgart, 1870.

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Als Persönlichkeit besitzt er die Elemente alles persönlichen Daseins.
Er ist zuerst ein thatsächliches Dasein; als solches besteht er aus Körper
und Seele. Er ist aber zweitens ein selbstbestimmtes Wesen. Seine
Selbstbestimmung beruht daher auf den drei Elementen, welche den
Inhalt derselben überhaupt bilden. Er hat sein Ich, seinen bewußten
Willen und seine That. Er ist aber darum die höhere Form der Per-
sönlichkeit, weil in ihm diese drei Elemente zu selbständigen, von ein-
ander geschieden erkennbaren und wirkenden Organismen werden.

Auf der Scheidung dieser Organismen beruht ihre selbständige
Funktion. Jeder derselben hat seine Aufgabe. Das Zusammenwirken
derselben bildet das, was wir das Staatsleben nennen. Ein geord-
netes Staatsleben ist dasjenige, in welchem jedes Organ nur seine
Funktionen vollzieht. Unorganisch wird dasselbe, wenn ein Organ die
Funktion des andern übernimmt. Der Staat hat daher seine Gesund-
heit und seine Krankheit. Verständlich werden beide erst durch den
organischen Staatsbegriff. Dieser aber ist nichts anderes, als die Auf-
lösung des Begriffs der Persönlichkeit und seines Inhalts. Klar wird
diese Auflösung, so wie wir jene Elemente mit dem Namen bezeichnen,
den sie im Staate haben.

Der Körper des Staats ist das Land. Die Verschiedenheit des
Landes ist eben so wichtig für den Staat, wie die Verschiedenheit des
Körpers für den Menschen. Die Beschreibung des Landes ist die Geo-
graphie; die höhere Auffassung des Landes würde die Physiologie des
Staatslebens ergeben.

Die Seele des Staates ist sein Volk. Die Beschreibung des
Volkes ist die Ethnographie. Die Völkerlehre faßt die Besonderheit
des Volkes vom höheren Standpunkt als staatbildenden Faktor auf.
Sie kann nur mit dem geistigen Auge erschaut werden.

In Land und Volk hat der Staat seine Individualität. Beide
wirken beständig, aber gegenseitig auf einander ein. Das Verständniß
dieser gegenseitigen Einwirkung bildet den Beginn und die Grundlage
alles Verständnisses der Entwicklung und Gestalt des Staats. Aus
ihrer nie ruhenden Wechselwirkung entsteht das, was wir das natür-
liche Leben
des Staats nennen. Eine solche individuelle Gestalt
seines natürlichen Lebens hat jeder Staat. Man kann durch dasselbe
nicht alles, aber ohne dasselbe im wirklichen Staat nichts vollständig
erklären und verstehen.

Diesem natürlichen steht das persönliche Leben des Staats
gegenüber.

Sein erstes Organ ist das Staatsoberhaupt. Seine Funktion
ist es, die persönliche Einheit aller Momente des Staats darzustellen

Als Perſönlichkeit beſitzt er die Elemente alles perſönlichen Daſeins.
Er iſt zuerſt ein thatſächliches Daſein; als ſolches beſteht er aus Körper
und Seele. Er iſt aber zweitens ein ſelbſtbeſtimmtes Weſen. Seine
Selbſtbeſtimmung beruht daher auf den drei Elementen, welche den
Inhalt derſelben überhaupt bilden. Er hat ſein Ich, ſeinen bewußten
Willen und ſeine That. Er iſt aber darum die höhere Form der Per-
ſönlichkeit, weil in ihm dieſe drei Elemente zu ſelbſtändigen, von ein-
ander geſchieden erkennbaren und wirkenden Organismen werden.

Auf der Scheidung dieſer Organismen beruht ihre ſelbſtändige
Funktion. Jeder derſelben hat ſeine Aufgabe. Das Zuſammenwirken
derſelben bildet das, was wir das Staatsleben nennen. Ein geord-
netes Staatsleben iſt dasjenige, in welchem jedes Organ nur ſeine
Funktionen vollzieht. Unorganiſch wird daſſelbe, wenn ein Organ die
Funktion des andern übernimmt. Der Staat hat daher ſeine Geſund-
heit und ſeine Krankheit. Verſtändlich werden beide erſt durch den
organiſchen Staatsbegriff. Dieſer aber iſt nichts anderes, als die Auf-
löſung des Begriffs der Perſönlichkeit und ſeines Inhalts. Klar wird
dieſe Auflöſung, ſo wie wir jene Elemente mit dem Namen bezeichnen,
den ſie im Staate haben.

Der Körper des Staats iſt das Land. Die Verſchiedenheit des
Landes iſt eben ſo wichtig für den Staat, wie die Verſchiedenheit des
Körpers für den Menſchen. Die Beſchreibung des Landes iſt die Geo-
graphie; die höhere Auffaſſung des Landes würde die Phyſiologie des
Staatslebens ergeben.

Die Seele des Staates iſt ſein Volk. Die Beſchreibung des
Volkes iſt die Ethnographie. Die Völkerlehre faßt die Beſonderheit
des Volkes vom höheren Standpunkt als ſtaatbildenden Faktor auf.
Sie kann nur mit dem geiſtigen Auge erſchaut werden.

In Land und Volk hat der Staat ſeine Individualität. Beide
wirken beſtändig, aber gegenſeitig auf einander ein. Das Verſtändniß
dieſer gegenſeitigen Einwirkung bildet den Beginn und die Grundlage
alles Verſtändniſſes der Entwicklung und Geſtalt des Staats. Aus
ihrer nie ruhenden Wechſelwirkung entſteht das, was wir das natür-
liche Leben
des Staats nennen. Eine ſolche individuelle Geſtalt
ſeines natürlichen Lebens hat jeder Staat. Man kann durch daſſelbe
nicht alles, aber ohne daſſelbe im wirklichen Staat nichts vollſtändig
erklären und verſtehen.

Dieſem natürlichen ſteht das perſönliche Leben des Staats
gegenüber.

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iſt es, die perſönliche Einheit aller Momente des Staats darzuſtellen

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[5/0029] Als Perſönlichkeit beſitzt er die Elemente alles perſönlichen Daſeins. Er iſt zuerſt ein thatſächliches Daſein; als ſolches beſteht er aus Körper und Seele. Er iſt aber zweitens ein ſelbſtbeſtimmtes Weſen. Seine Selbſtbeſtimmung beruht daher auf den drei Elementen, welche den Inhalt derſelben überhaupt bilden. Er hat ſein Ich, ſeinen bewußten Willen und ſeine That. Er iſt aber darum die höhere Form der Per- ſönlichkeit, weil in ihm dieſe drei Elemente zu ſelbſtändigen, von ein- ander geſchieden erkennbaren und wirkenden Organismen werden. Auf der Scheidung dieſer Organismen beruht ihre ſelbſtändige Funktion. Jeder derſelben hat ſeine Aufgabe. Das Zuſammenwirken derſelben bildet das, was wir das Staatsleben nennen. Ein geord- netes Staatsleben iſt dasjenige, in welchem jedes Organ nur ſeine Funktionen vollzieht. Unorganiſch wird daſſelbe, wenn ein Organ die Funktion des andern übernimmt. Der Staat hat daher ſeine Geſund- heit und ſeine Krankheit. Verſtändlich werden beide erſt durch den organiſchen Staatsbegriff. Dieſer aber iſt nichts anderes, als die Auf- löſung des Begriffs der Perſönlichkeit und ſeines Inhalts. Klar wird dieſe Auflöſung, ſo wie wir jene Elemente mit dem Namen bezeichnen, den ſie im Staate haben. Der Körper des Staats iſt das Land. Die Verſchiedenheit des Landes iſt eben ſo wichtig für den Staat, wie die Verſchiedenheit des Körpers für den Menſchen. Die Beſchreibung des Landes iſt die Geo- graphie; die höhere Auffaſſung des Landes würde die Phyſiologie des Staatslebens ergeben. Die Seele des Staates iſt ſein Volk. Die Beſchreibung des Volkes iſt die Ethnographie. Die Völkerlehre faßt die Beſonderheit des Volkes vom höheren Standpunkt als ſtaatbildenden Faktor auf. Sie kann nur mit dem geiſtigen Auge erſchaut werden. In Land und Volk hat der Staat ſeine Individualität. Beide wirken beſtändig, aber gegenſeitig auf einander ein. Das Verſtändniß dieſer gegenſeitigen Einwirkung bildet den Beginn und die Grundlage alles Verſtändniſſes der Entwicklung und Geſtalt des Staats. Aus ihrer nie ruhenden Wechſelwirkung entſteht das, was wir das natür- liche Leben des Staats nennen. Eine ſolche individuelle Geſtalt ſeines natürlichen Lebens hat jeder Staat. Man kann durch daſſelbe nicht alles, aber ohne daſſelbe im wirklichen Staat nichts vollſtändig erklären und verſtehen. Dieſem natürlichen ſteht das perſönliche Leben des Staats gegenüber. Sein erſtes Organ iſt das Staatsoberhaupt. Seine Funktion iſt es, die perſönliche Einheit aller Momente des Staats darzuſtellen

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Zitationshilfe: Stein, Lorenz von: Handbuch der Verwaltungslehre und des Verwaltungsrechts: mit Vergleichung der Literatur und Gesetzgebung von Frankreich, England und Deutschland; als Grundlage für Vorlesungen. Stuttgart, 1870, S. 5. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_handbuch_1870/29>, abgerufen am 28.03.2024.