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Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946.

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Eckermann wegen ihrer Neigung zu bloß musikalischen pst_043.002
Gedichten so unfreundlich tadelt. Vielleicht, daß pst_043.003
hier sich schon ein weiblicher Zug der lyrischen Dichtung pst_043.004
oder ein lyrischer Zug der Frau anzeigt.

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Außerdem aber erhellt die Unselbständigkeit der pst_043.006
Teile daraus, daß oft sogar der geschlossene Satz noch pst_043.007
einer loseren Folge von Satzteilen oder gar einzelnen pst_043.008
Wörtern weicht:

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"Und hin und her im Tal pst_043.010
Erwacht die Nachtigall, pst_043.011
Dann wieder alles grau und stille ..."
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Der letzte Vers ist so wenig ein Satz wie gleich der Anfang pst_043.013
der zweiten Strophe:

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"O wunderbarer Nachtgesang: pst_043.015
Von fern im Land der Ströme Gang, pst_043.016
Leis Schauern in den dunklen Bäumen ..."
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Satzfragmente erscheinen hier, die nicht für sich bestehen, pst_043.018
sondern nur Wellen im lyrischen Strom sind: pst_043.019
noch ehe die Krone sich bildet, ist die Welle schon wieder pst_043.020
zerronnen. Das stetige Fließen verhindert den Abschluß pst_043.021
eines einzelnen Teils. So auch in Annette von pst_043.022
Drostes "Im Grase":

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"Süße Ruh', süßer Taumel im Gras, pst_043.024
Von des Krautes Arome umhaucht, pst_043.025
Tiefe Flut, tief tief trunkne Flut, pst_043.026
Wenn die Wolk' am Azure verraucht, pst_043.027
Wenn aufs müde, schwimmende Haupt pst_043.028
Süßes Lachen gaukelt herab,

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Eckermann wegen ihrer Neigung zu bloß musikalischen pst_043.002
Gedichten so unfreundlich tadelt. Vielleicht, daß pst_043.003
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«Und hin und her im Tal pst_043.010
Erwacht die Nachtigall, pst_043.011
Dann wieder alles grau und stille ...»
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der zweiten Strophe:

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«O wunderbarer Nachtgesang: pst_043.015
Von fern im Land der Ströme Gang, pst_043.016
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eines einzelnen Teils. So auch in Annette von pst_043.022
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[43/0047] pst_043.001 Eckermann wegen ihrer Neigung zu bloß musikalischen pst_043.002 Gedichten so unfreundlich tadelt. Vielleicht, daß pst_043.003 hier sich schon ein weiblicher Zug der lyrischen Dichtung pst_043.004 oder ein lyrischer Zug der Frau anzeigt. pst_043.005   Außerdem aber erhellt die Unselbständigkeit der pst_043.006 Teile daraus, daß oft sogar der geschlossene Satz noch pst_043.007 einer loseren Folge von Satzteilen oder gar einzelnen pst_043.008 Wörtern weicht: pst_043.009 «Und hin und her im Tal pst_043.010 Erwacht die Nachtigall, pst_043.011 Dann wieder alles grau und stille ...» pst_043.012 Der letzte Vers ist so wenig ein Satz wie gleich der Anfang pst_043.013 der zweiten Strophe: pst_043.014 «O wunderbarer Nachtgesang: pst_043.015 Von fern im Land der Ströme Gang, pst_043.016 Leis Schauern in den dunklen Bäumen ...» pst_043.017 Satzfragmente erscheinen hier, die nicht für sich bestehen, pst_043.018 sondern nur Wellen im lyrischen Strom sind: pst_043.019 noch ehe die Krone sich bildet, ist die Welle schon wieder pst_043.020 zerronnen. Das stetige Fließen verhindert den Abschluß pst_043.021 eines einzelnen Teils. So auch in Annette von pst_043.022 Drostes «Im Grase»: pst_043.023 «Süße Ruh', süßer Taumel im Gras, pst_043.024 Von des Krautes Arome umhaucht, pst_043.025 Tiefe Flut, tief tief trunkne Flut, pst_043.026 Wenn die Wolk' am Azure verraucht, pst_043.027 Wenn aufs müde, schwimmende Haupt pst_043.028 Süßes Lachen gaukelt herab,

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Zitationshilfe: Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946, S. 43. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/staiger_poetik_1946/47>, abgerufen am 25.04.2024.