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Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946.

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sondern etwas ist, das nur dem Ich angehört pst_029.002
und von demselben zu seiner Selbstbefriedigung in die pst_029.003
Zeit hineingesetzt ist"1.

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Das gilt für den Blankvers sowohl wie für den Hexameter pst_029.005
oder das Maß eines Lieds, sofern ein solches fixierbar pst_029.006
ist. Wenn Hegel, gemäß den Voraussetzungen seiner pst_029.007
Metaphysik, erklärt, die Gleichförmigkeit gehöre pst_029.008
nicht der Zeit und den Tönen, sondern dem Ich an, so pst_029.009
meint er damit, daß "in Wirklichkeit" ja niemals - es pst_029.010
sei denn in metronomischem Vortrag - gleiche Takte pst_029.011
fallen, sondern die Gleichheit nur als eine über mehr pst_029.012
oder minder großen Schwankungen sich behauptende pst_029.013
regulative Idee vernommen wird. Es ist der Widerstreit pst_029.014
von Takt und Rhythmus, wie ihn auch Heusler pst_029.015
beschreibt2. Ob Takt und Rhythmus bei natürlichem pst_029.016
Vortrag sich einander nähern oder weit auseinandergehen, pst_029.017
ist wesentlich für den Stil eines Dichters. In pst_029.018
Schillers Balladen nähert der Rhythmus sich nicht selten pst_029.019
so sehr dem Takt, daß die Verse abgehackt klingen. pst_029.020
In Mörikes "Verborgenheit" tritt die Gleichheit des pst_029.021
Taktes in den einzelnen Strophen hinter dem Wechsel pst_029.022
des Rhythmus zurück und scheint nur noch wie ein pst_029.023
Auge zu sein, das unauffällig die Verse bewacht und vor pst_029.024
Auflösung behütet. In "Wanderers Nachtlied" aber ist pst_029.025
der Takt überhaupt nicht mehr deutlich erkennbar; pst_029.026
verschiedene Regelungen sind möglich, je nachdem die pst_029.027
Dauer der Silben und der Pausen eingeschätzt wird. pst_029.028
Längere Gedichte in einem so vagen Tonfall würden pst_029.029
zerrinnen.

1 pst_029.030
Sämtliche Werke, Jubiläums-Ausgabe Stuttgart 1928, Bd. XIV, S. 161.
2 pst_029.031
Deutsche Versgeschichte, Bd. I, Berlin und Leipzig 1925, S. 17 ff.

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sondern etwas ist, das nur dem Ich angehört pst_029.002
und von demselben zu seiner Selbstbefriedigung in die pst_029.003
Zeit hineingesetzt ist»1.

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  Das gilt für den Blankvers sowohl wie für den Hexameter pst_029.005
oder das Maß eines Lieds, sofern ein solches fixierbar pst_029.006
ist. Wenn Hegel, gemäß den Voraussetzungen seiner pst_029.007
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nicht der Zeit und den Tönen, sondern dem Ich an, so pst_029.009
meint er damit, daß «in Wirklichkeit» ja niemals – es pst_029.010
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fallen, sondern die Gleichheit nur als eine über mehr pst_029.012
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von Takt und Rhythmus, wie ihn auch Heusler pst_029.015
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Vortrag sich einander nähern oder weit auseinandergehen, pst_029.017
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Schillers Balladen nähert der Rhythmus sich nicht selten pst_029.019
so sehr dem Takt, daß die Verse abgehackt klingen. pst_029.020
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der Takt überhaupt nicht mehr deutlich erkennbar; pst_029.026
verschiedene Regelungen sind möglich, je nachdem die pst_029.027
Dauer der Silben und der Pausen eingeschätzt wird. pst_029.028
Längere Gedichte in einem so vagen Tonfall würden pst_029.029
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1 pst_029.030
Sämtliche Werke, Jubiläums-Ausgabe Stuttgart 1928, Bd. XIV, S. 161.
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Zitationshilfe: Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946, S. 29. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/staiger_poetik_1946/33>, abgerufen am 20.04.2024.