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Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946.

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wird ein Ideal des ununterbrochenen lyrischen Daseins pst_027.002
erstrebt, das künstlerisch nicht mehr möglich ist und pst_027.003
zu völliger Selbstauflösung führt.

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So bliebe die lyrische Dichtung also auf den engsten pst_027.005
Raum beschränkt? Ich füge ein Zwischenbeispiel ein, pst_027.006
Goethes Gedicht pst_027.007
"Auf dem See. pst_027.008

Und frische Nahrung, neues Blut pst_027.009
Saug ich aus freier Welt; pst_027.010
Wie ist Natur so hold und gut, pst_027.011
Die mich am Busen hält! pst_027.012
Die Welle wieget unsern Kahn pst_027.013
Im Rudertakt hinauf, pst_027.014
Und Berge, wolkig himmelan, pst_027.015
Begegnen unserm Lauf.
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Aug, mein Aug, was sinkst du nieder? pst_027.017
Goldne Träume, kommt ihr wieder? pst_027.018
Weg, du Traum! so gold du bist; pst_027.019
Hier auch Lieb und Leben ist.
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Auf der Welle blinken pst_027.021
Tausend schwebende Sterne, pst_027.022
Weiche Nebel trinken pst_027.023
Rings die türmende Ferne; pst_027.024
Morgenwind umflügelt pst_027.025
Die beschattete Bucht, pst_027.026
Und im See bespiegelt pst_027.027
Sich die reifende Frucht."

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Das Ganze ist in drei Teile gesondert: der erste, mit pst_027.029
Auftakt, klingt keck und frisch; der zweite, mit den

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erstrebt, das künstlerisch nicht mehr möglich ist und pst_027.003
zu völliger Selbstauflösung führt.

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Wie ist Natur so hold und gut, pst_027.011
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Die Welle wieget unsern Kahn pst_027.013
Im Rudertakt hinauf, pst_027.014
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Aug, mein Aug, was sinkst du nieder? pst_027.017
Goldne Träume, kommt ihr wieder? pst_027.018
Weg, du Traum! so gold du bist; pst_027.019
Hier auch Lieb und Leben ist.
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Weiche Nebel trinken pst_027.023
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Die beschattete Bucht, pst_027.026
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Sich die reifende Frucht.»

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Zitationshilfe: Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946, S. 27. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/staiger_poetik_1946/31>, abgerufen am 19.04.2024.