Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946.

Bild:
<< vorherige Seite
pst_026.001
"Wie klinget die Welle! pst_026.002
Wie wehet ein Wind! pst_026.003
O selige Schwelle, pst_026.004
Wo wir geboren sind!"
pst_026.005

Die folgenden Strophen seiner längeren Gedichte bewahren pst_026.006
selten den Zauber der ersten. Der Dichter sieht pst_026.007
sich genötigt, etwas aus seiner Eingebung zu machen, pst_026.008
sie auszuspinnen, abzurunden oder womöglich gar zu pst_026.009
erklären. Damit tritt er dem Lyrischen gegenüber und pst_026.010
aus dem Raum der Gnade heraus. Zwar kann er sich pst_026.011
weiterhelfen, indem er auf seinen in früheren Liedern pst_026.012
geäufneten Schatz der Sprache zurückgreift - Brentano pst_026.013
hat dies ausgiebig getan; aber ein Epigone, auch pst_026.014
ein Epigone seiner selbst, täuscht feinere Ohren nicht.

pst_026.015

Hier meldet sich eine Not, die später genauer betrachtet pst_026.016
sei, wenn es gilt, zu zeigen, daß das Lyrische pst_026.017
eine Idee ist, die sich - nicht aus menschlicher Schwäche pst_026.018
des Dichters, sondern ihrem Wesen nach - als Dichtung pst_026.019
nie rein verwirklichen läßt und des Ausgleichs pst_026.020
durch das Epische oder Dramatische bedarf.

pst_026.021

Die Stimmung nämlich ist ein Moment, ein einziger pst_026.022
Aufklang, dem die Ernüchterung folgt oder wieder ein pst_026.023
neuer Klang. Wenn aber die Stimmungen sich aneinanderreihen, pst_026.024
wenn der Dichter dahintreibt im Auf und pst_026.025
Nieder des seelischen Stroms und seine Verse limnographisch pst_026.026
dem Wechsel folgen, wo bleibt dann die Einheit, pst_026.027
deren das Kunstwerk als solches bedarf? Es gibt pst_026.028
Gedichte dieser Art, in freien Rhythmen, wo jede Zeile pst_026.029
den Anschein des Unmittelbaren hat und wo das Ganze pst_026.030
dahinströmt, uferlos, ohne Anfang und ohne Ende. Da

pst_026.001
«Wie klinget die Welle! pst_026.002
Wie wehet ein Wind! pst_026.003
O selige Schwelle, pst_026.004
Wo wir geboren sind!»
pst_026.005

Die folgenden Strophen seiner längeren Gedichte bewahren pst_026.006
selten den Zauber der ersten. Der Dichter sieht pst_026.007
sich genötigt, etwas aus seiner Eingebung zu machen, pst_026.008
sie auszuspinnen, abzurunden oder womöglich gar zu pst_026.009
erklären. Damit tritt er dem Lyrischen gegenüber und pst_026.010
aus dem Raum der Gnade heraus. Zwar kann er sich pst_026.011
weiterhelfen, indem er auf seinen in früheren Liedern pst_026.012
geäufneten Schatz der Sprache zurückgreift – Brentano pst_026.013
hat dies ausgiebig getan; aber ein Epigone, auch pst_026.014
ein Epigone seiner selbst, täuscht feinere Ohren nicht.

pst_026.015

  Hier meldet sich eine Not, die später genauer betrachtet pst_026.016
sei, wenn es gilt, zu zeigen, daß das Lyrische pst_026.017
eine Idee ist, die sich – nicht aus menschlicher Schwäche pst_026.018
des Dichters, sondern ihrem Wesen nach – als Dichtung pst_026.019
nie rein verwirklichen läßt und des Ausgleichs pst_026.020
durch das Epische oder Dramatische bedarf.

pst_026.021

  Die Stimmung nämlich ist ein Moment, ein einziger pst_026.022
Aufklang, dem die Ernüchterung folgt oder wieder ein pst_026.023
neuer Klang. Wenn aber die Stimmungen sich aneinanderreihen, pst_026.024
wenn der Dichter dahintreibt im Auf und pst_026.025
Nieder des seelischen Stroms und seine Verse limnographisch pst_026.026
dem Wechsel folgen, wo bleibt dann die Einheit, pst_026.027
deren das Kunstwerk als solches bedarf? Es gibt pst_026.028
Gedichte dieser Art, in freien Rhythmen, wo jede Zeile pst_026.029
den Anschein des Unmittelbaren hat und wo das Ganze pst_026.030
dahinströmt, uferlos, ohne Anfang und ohne Ende. Da

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0030" n="26"/>
          <lb n="pst_026.001"/>
          <lg>
            <l>«Wie klinget die Welle!</l>
            <lb n="pst_026.002"/>
            <l>Wie wehet ein Wind!</l>
            <lb n="pst_026.003"/>
            <l>O selige Schwelle,</l>
            <lb n="pst_026.004"/>
            <l>Wo wir geboren sind!»</l>
          </lg>
          <lb n="pst_026.005"/>
          <p>Die folgenden Strophen seiner längeren Gedichte bewahren <lb n="pst_026.006"/>
selten den Zauber der ersten. Der Dichter sieht <lb n="pst_026.007"/>
sich genötigt, etwas aus seiner Eingebung zu machen, <lb n="pst_026.008"/>
sie auszuspinnen, abzurunden oder womöglich gar zu <lb n="pst_026.009"/>
erklären. Damit tritt er dem Lyrischen gegenüber und <lb n="pst_026.010"/>
aus dem Raum der Gnade heraus. Zwar kann er sich <lb n="pst_026.011"/>
weiterhelfen, indem er auf seinen in früheren Liedern <lb n="pst_026.012"/>
geäufneten Schatz der Sprache zurückgreift &#x2013; Brentano <lb n="pst_026.013"/>
hat dies ausgiebig getan; aber ein Epigone, auch <lb n="pst_026.014"/>
ein Epigone seiner selbst, täuscht feinere Ohren nicht.</p>
          <lb n="pst_026.015"/>
          <p>  Hier meldet sich eine Not, die später genauer betrachtet <lb n="pst_026.016"/>
sei, wenn es gilt, zu zeigen, daß das Lyrische <lb n="pst_026.017"/>
eine Idee ist, die sich &#x2013; nicht aus menschlicher Schwäche <lb n="pst_026.018"/>
des Dichters, sondern ihrem Wesen nach &#x2013; als Dichtung <lb n="pst_026.019"/>
nie rein verwirklichen läßt und des Ausgleichs <lb n="pst_026.020"/>
durch das Epische oder Dramatische bedarf.</p>
          <lb n="pst_026.021"/>
          <p>  Die Stimmung nämlich ist ein Moment, ein einziger <lb n="pst_026.022"/>
Aufklang, dem die Ernüchterung folgt oder wieder ein <lb n="pst_026.023"/>
neuer Klang. Wenn aber die Stimmungen sich aneinanderreihen, <lb n="pst_026.024"/>
wenn der Dichter dahintreibt im Auf und <lb n="pst_026.025"/>
Nieder des seelischen Stroms und seine Verse limnographisch <lb n="pst_026.026"/>
dem Wechsel folgen, wo bleibt dann die Einheit, <lb n="pst_026.027"/>
deren das Kunstwerk als solches bedarf? Es gibt <lb n="pst_026.028"/>
Gedichte dieser Art, in freien Rhythmen, wo jede Zeile <lb n="pst_026.029"/>
den Anschein des Unmittelbaren hat und wo das Ganze <lb n="pst_026.030"/>
dahinströmt, uferlos, ohne Anfang und ohne Ende. Da
</p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[26/0030] pst_026.001 «Wie klinget die Welle! pst_026.002 Wie wehet ein Wind! pst_026.003 O selige Schwelle, pst_026.004 Wo wir geboren sind!» pst_026.005 Die folgenden Strophen seiner längeren Gedichte bewahren pst_026.006 selten den Zauber der ersten. Der Dichter sieht pst_026.007 sich genötigt, etwas aus seiner Eingebung zu machen, pst_026.008 sie auszuspinnen, abzurunden oder womöglich gar zu pst_026.009 erklären. Damit tritt er dem Lyrischen gegenüber und pst_026.010 aus dem Raum der Gnade heraus. Zwar kann er sich pst_026.011 weiterhelfen, indem er auf seinen in früheren Liedern pst_026.012 geäufneten Schatz der Sprache zurückgreift – Brentano pst_026.013 hat dies ausgiebig getan; aber ein Epigone, auch pst_026.014 ein Epigone seiner selbst, täuscht feinere Ohren nicht. pst_026.015   Hier meldet sich eine Not, die später genauer betrachtet pst_026.016 sei, wenn es gilt, zu zeigen, daß das Lyrische pst_026.017 eine Idee ist, die sich – nicht aus menschlicher Schwäche pst_026.018 des Dichters, sondern ihrem Wesen nach – als Dichtung pst_026.019 nie rein verwirklichen läßt und des Ausgleichs pst_026.020 durch das Epische oder Dramatische bedarf. pst_026.021   Die Stimmung nämlich ist ein Moment, ein einziger pst_026.022 Aufklang, dem die Ernüchterung folgt oder wieder ein pst_026.023 neuer Klang. Wenn aber die Stimmungen sich aneinanderreihen, pst_026.024 wenn der Dichter dahintreibt im Auf und pst_026.025 Nieder des seelischen Stroms und seine Verse limnographisch pst_026.026 dem Wechsel folgen, wo bleibt dann die Einheit, pst_026.027 deren das Kunstwerk als solches bedarf? Es gibt pst_026.028 Gedichte dieser Art, in freien Rhythmen, wo jede Zeile pst_026.029 den Anschein des Unmittelbaren hat und wo das Ganze pst_026.030 dahinströmt, uferlos, ohne Anfang und ohne Ende. Da

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/staiger_poetik_1946
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/staiger_poetik_1946/30
Zitationshilfe: Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946, S. 26. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/staiger_poetik_1946/30>, abgerufen am 19.04.2024.