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Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946.

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Kräftefelder, nach denen die Worte sich ordnen, offenbar pst_020.002
mächtiger sind als der Zwang zum grammatisch pst_020.003
Richtigen und Gewohnten.

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Außerdem gibt es nun aber Gedichte, deren Motiv pst_020.005
oder Sinn sehr dürftig, sogar belanglos ist, und die doch pst_020.006
unverwelklich Jahrhunderte lang in der Seele des Volkes pst_020.007
blühen. Goethe hat dies zwar bestritten. In den Gesprächen pst_020.008
mit Eckermann ist einmal von serbischen Liedern pst_020.009
die Rede1. Eckermann freut sich an den Motiven, pst_020.010
die Goethe in Worte gefaßt hat: "Mädchen will den pst_020.011
Ungeliebten nicht", "Liebesfreuden verschwatzt", pst_020.012
"die schöne Kellnerin; ihr Geliebter ist nicht mit unter pst_020.013
den Gästen". Er bemerkt dazu, die Motive seien an sich pst_020.014
schon so lebendig, daß er kaum noch nach dem Gedicht pst_020.015
verlange. Darauf gibt ihm Goethe zur Antwort:

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"Sie haben ganz recht, es ist so. Aber Sie sehen daraus pst_020.017
die große Wichtigkeit der Motive, die niemand begreifen pst_020.018
will. Unsere Frauenzimmer haben davon nun pst_020.019
vollends keine Ahnung. Dies Gedicht ist schön, sagen pst_020.020
sie und denken dabei bloß an die Empfindung, an die pst_020.021
Worte, an die Verse. Daß aber die wahre Kraft und pst_020.022
Wirkung eines Gedichts in der Situation, in den Motiven pst_020.023
besteht, daran denkt niemand. Und aus diesem pst_020.024
Grunde werden denn auch Tausende von Gedichten pst_020.025
gemacht, wo das Motiv durchaus null ist, und die bloß pst_020.026
durch Empfindungen und klingende Verse eine Art pst_020.027
von Existenz vorspiegeln."

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Dieselbe Schätzung des Motivs hat Goethe auch in der pst_020.029
bildenden Kunst, zum Verdruß der romantischen Maler, pst_020.030
bezeugt. Er hat es sogar gewagt, zu erklären, erst

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18. Januar 1825.

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mächtiger sind als der Zwang zum grammatisch pst_020.003
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  Außerdem gibt es nun aber Gedichte, deren Motiv pst_020.005
oder Sinn sehr dürftig, sogar belanglos ist, und die doch pst_020.006
unverwelklich Jahrhunderte lang in der Seele des Volkes pst_020.007
blühen. Goethe hat dies zwar bestritten. In den Gesprächen pst_020.008
mit Eckermann ist einmal von serbischen Liedern pst_020.009
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die Goethe in Worte gefaßt hat: «Mädchen will den pst_020.011
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«die schöne Kellnerin; ihr Geliebter ist nicht mit unter pst_020.013
den Gästen». Er bemerkt dazu, die Motive seien an sich pst_020.014
schon so lebendig, daß er kaum noch nach dem Gedicht pst_020.015
verlange. Darauf gibt ihm Goethe zur Antwort:

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  «Sie haben ganz recht, es ist so. Aber Sie sehen daraus pst_020.017
die große Wichtigkeit der Motive, die niemand begreifen pst_020.018
will. Unsere Frauenzimmer haben davon nun pst_020.019
vollends keine Ahnung. Dies Gedicht ist schön, sagen pst_020.020
sie und denken dabei bloß an die Empfindung, an die pst_020.021
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besteht, daran denkt niemand. Und aus diesem pst_020.024
Grunde werden denn auch Tausende von Gedichten pst_020.025
gemacht, wo das Motiv durchaus null ist, und die bloß pst_020.026
durch Empfindungen und klingende Verse eine Art pst_020.027
von Existenz vorspiegeln.»

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  Dieselbe Schätzung des Motivs hat Goethe auch in der pst_020.029
bildenden Kunst, zum Verdruß der romantischen Maler, pst_020.030
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Zitationshilfe: Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946, S. 20. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/staiger_poetik_1946/24>, abgerufen am 19.04.2024.