Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946.

Bild:
<< vorherige Seite

pst_012.001
aber immer nur den Sprachgebrauch präzisiert, sollten pst_012.002
von dieser Seite keine ernstlichen Schwierigkeiten entstehen.

pst_012.003
pst_012.004

Und so wäre denn überhaupt die Absicht der Schrift pst_012.005
darin zu finden, daß sie den Sprachgebrauch aufklärt, pst_012.006
daß sie jedem erlaubt, in Zukunft zu wissen, was er pst_012.007
meint, wenn er "lyrisch", "episch" oder "dramatisch" pst_012.008
sagt. Man nehme sie deshalb hin als literaturwissenschaftliche pst_012.009
Propädeutik, als Instrument für den Interpreten, pst_012.010
das eine rasche Verständigung über allgemeine pst_012.011
Begriffe ermöglicht und damit Raum schafft für Untersuchungen, pst_012.012
welche dem besonderen Schaffen der einzelnen pst_012.013
Dichter gewidmet sind. Außerdem möchte sie pst_012.014
freilich auch selbständige Geltung in Anspruch nehmen, pst_012.015
insofern nämlich, als die Frage nach dem Wesen der pst_012.016
Gattungsbegriffe aus eigenem Antrieb auf die Frage pst_012.017
nach dem Wesen des Menschen führt. So wird aus der pst_012.018
Fundamentalpoetik ein Beitrag der Literaturwissenschaft pst_012.019
an die philosophische Anthropologie. Darin berührt pst_012.020
sie sich mit dem Buch "Die Zeit als Einbildungskraft pst_012.021
des Dichters", das, 1939 erschienen, an Gedichten pst_012.022
Brentanos, Goethes und Gottfried Kellers Möglichkeiten pst_012.023
des Menschen herauszuarbeiten versucht. Wer pst_012.024
sich die Mühe nimmt, die neue Schrift mit der früheren pst_012.025
zu vergleichen, wird freilich bemerken, daß sich pst_012.026
terminologisch manches geändert hat. Ich würde vor pst_012.027
allem ein lyrisches Dasein nicht mehr als "reißende pst_012.028
Zeit" bezeichnen. Und, was bedeutsamer ist, die Unterscheidung pst_012.029
der individuellen Realität vom rein idealen pst_012.030
Wesen ist erst in den "Grundbegriffen" mit der gehörigen pst_012.031
Strenge durchgeführt.

pst_012.001
aber immer nur den Sprachgebrauch präzisiert, sollten pst_012.002
von dieser Seite keine ernstlichen Schwierigkeiten entstehen.

pst_012.003
pst_012.004

  Und so wäre denn überhaupt die Absicht der Schrift pst_012.005
darin zu finden, daß sie den Sprachgebrauch aufklärt, pst_012.006
daß sie jedem erlaubt, in Zukunft zu wissen, was er pst_012.007
meint, wenn er «lyrisch», «episch» oder «dramatisch» pst_012.008
sagt. Man nehme sie deshalb hin als literaturwissenschaftliche pst_012.009
Propädeutik, als Instrument für den Interpreten, pst_012.010
das eine rasche Verständigung über allgemeine pst_012.011
Begriffe ermöglicht und damit Raum schafft für Untersuchungen, pst_012.012
welche dem besonderen Schaffen der einzelnen pst_012.013
Dichter gewidmet sind. Außerdem möchte sie pst_012.014
freilich auch selbständige Geltung in Anspruch nehmen, pst_012.015
insofern nämlich, als die Frage nach dem Wesen der pst_012.016
Gattungsbegriffe aus eigenem Antrieb auf die Frage pst_012.017
nach dem Wesen des Menschen führt. So wird aus der pst_012.018
Fundamentalpoetik ein Beitrag der Literaturwissenschaft pst_012.019
an die philosophische Anthropologie. Darin berührt pst_012.020
sie sich mit dem Buch «Die Zeit als Einbildungskraft pst_012.021
des Dichters», das, 1939 erschienen, an Gedichten pst_012.022
Brentanos, Goethes und Gottfried Kellers Möglichkeiten pst_012.023
des Menschen herauszuarbeiten versucht. Wer pst_012.024
sich die Mühe nimmt, die neue Schrift mit der früheren pst_012.025
zu vergleichen, wird freilich bemerken, daß sich pst_012.026
terminologisch manches geändert hat. Ich würde vor pst_012.027
allem ein lyrisches Dasein nicht mehr als «reißende pst_012.028
Zeit» bezeichnen. Und, was bedeutsamer ist, die Unterscheidung pst_012.029
der individuellen Realität vom rein idealen pst_012.030
Wesen ist erst in den «Grundbegriffen» mit der gehörigen pst_012.031
Strenge durchgeführt.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0016" n="12"/><lb n="pst_012.001"/>
aber immer nur den Sprachgebrauch präzisiert, sollten <lb n="pst_012.002"/>
von dieser Seite keine ernstlichen Schwierigkeiten entstehen.</p>
        <lb n="pst_012.003"/>
        <lb n="pst_012.004"/>
        <p>  Und so wäre denn überhaupt die Absicht der Schrift <lb n="pst_012.005"/>
darin zu finden, daß sie den Sprachgebrauch aufklärt, <lb n="pst_012.006"/>
daß sie jedem erlaubt, in Zukunft zu wissen, was er <lb n="pst_012.007"/>
meint, wenn er «lyrisch», «episch» oder «dramatisch» <lb n="pst_012.008"/>
sagt. Man nehme sie deshalb hin als literaturwissenschaftliche <lb n="pst_012.009"/>
Propädeutik, als Instrument für den Interpreten, <lb n="pst_012.010"/>
das eine rasche Verständigung über allgemeine <lb n="pst_012.011"/>
Begriffe ermöglicht und damit Raum schafft für Untersuchungen, <lb n="pst_012.012"/>
welche dem besonderen Schaffen der einzelnen <lb n="pst_012.013"/>
Dichter gewidmet sind. Außerdem möchte sie <lb n="pst_012.014"/>
freilich auch selbständige Geltung in Anspruch nehmen, <lb n="pst_012.015"/>
insofern nämlich, als die Frage nach dem Wesen der <lb n="pst_012.016"/>
Gattungsbegriffe aus eigenem Antrieb auf die Frage <lb n="pst_012.017"/>
nach dem Wesen des Menschen führt. So wird aus der <lb n="pst_012.018"/>
Fundamentalpoetik ein Beitrag der Literaturwissenschaft <lb n="pst_012.019"/>
an die philosophische Anthropologie. Darin berührt <lb n="pst_012.020"/>
sie sich mit dem Buch «Die Zeit als Einbildungskraft <lb n="pst_012.021"/>
des Dichters», das, 1939 erschienen, an Gedichten <lb n="pst_012.022"/>
Brentanos, Goethes und Gottfried Kellers Möglichkeiten <lb n="pst_012.023"/>
des Menschen herauszuarbeiten versucht. Wer <lb n="pst_012.024"/>
sich die Mühe nimmt, die neue Schrift mit der früheren <lb n="pst_012.025"/>
zu vergleichen, wird freilich bemerken, daß sich <lb n="pst_012.026"/>
terminologisch manches geändert hat. Ich würde vor <lb n="pst_012.027"/>
allem ein lyrisches Dasein nicht mehr als «reißende <lb n="pst_012.028"/>
Zeit» bezeichnen. Und, was bedeutsamer ist, die Unterscheidung <lb n="pst_012.029"/>
der individuellen Realität vom rein idealen <lb n="pst_012.030"/>
Wesen ist erst in den «Grundbegriffen» mit der gehörigen <lb n="pst_012.031"/>
Strenge durchgeführt.</p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[12/0016] pst_012.001 aber immer nur den Sprachgebrauch präzisiert, sollten pst_012.002 von dieser Seite keine ernstlichen Schwierigkeiten entstehen. pst_012.003 pst_012.004   Und so wäre denn überhaupt die Absicht der Schrift pst_012.005 darin zu finden, daß sie den Sprachgebrauch aufklärt, pst_012.006 daß sie jedem erlaubt, in Zukunft zu wissen, was er pst_012.007 meint, wenn er «lyrisch», «episch» oder «dramatisch» pst_012.008 sagt. Man nehme sie deshalb hin als literaturwissenschaftliche pst_012.009 Propädeutik, als Instrument für den Interpreten, pst_012.010 das eine rasche Verständigung über allgemeine pst_012.011 Begriffe ermöglicht und damit Raum schafft für Untersuchungen, pst_012.012 welche dem besonderen Schaffen der einzelnen pst_012.013 Dichter gewidmet sind. Außerdem möchte sie pst_012.014 freilich auch selbständige Geltung in Anspruch nehmen, pst_012.015 insofern nämlich, als die Frage nach dem Wesen der pst_012.016 Gattungsbegriffe aus eigenem Antrieb auf die Frage pst_012.017 nach dem Wesen des Menschen führt. So wird aus der pst_012.018 Fundamentalpoetik ein Beitrag der Literaturwissenschaft pst_012.019 an die philosophische Anthropologie. Darin berührt pst_012.020 sie sich mit dem Buch «Die Zeit als Einbildungskraft pst_012.021 des Dichters», das, 1939 erschienen, an Gedichten pst_012.022 Brentanos, Goethes und Gottfried Kellers Möglichkeiten pst_012.023 des Menschen herauszuarbeiten versucht. Wer pst_012.024 sich die Mühe nimmt, die neue Schrift mit der früheren pst_012.025 zu vergleichen, wird freilich bemerken, daß sich pst_012.026 terminologisch manches geändert hat. Ich würde vor pst_012.027 allem ein lyrisches Dasein nicht mehr als «reißende pst_012.028 Zeit» bezeichnen. Und, was bedeutsamer ist, die Unterscheidung pst_012.029 der individuellen Realität vom rein idealen pst_012.030 Wesen ist erst in den «Grundbegriffen» mit der gehörigen pst_012.031 Strenge durchgeführt.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/staiger_poetik_1946
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/staiger_poetik_1946/16
Zitationshilfe: Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946, S. 12. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/staiger_poetik_1946/16>, abgerufen am 24.04.2024.