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Spyri, Johanna: Heidi's Lehr- und Wanderjahre. Gotha, 1880.

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"Von meiner Gaiß, von der Schnecke. Fang' einmal
zu essen an", mahnte Peter wieder. Heidi fing bei seiner
Milch an, und so wie es sein leeres Schüsselchen hinstellte,
stand Peter auf und holte ein zweites herbei. Dazu brach
Heidi ein Stück von seinem Brod ab, und das ganze
übrige Stück, das immer noch größer war, als Peter's
eignes Stück gewesen, das nun schon sammt der Zubehör
fast zu Ende war, reichte es diesem hinüber mit dem ganzen
großen Brocken Käse und sagte: "Das kannst du haben,
ich habe nun genug."

Peter schaute das Heidi mit sprachloser Verwunderung
an, denn noch nie in seinem Leben hätte er so sagen und
Etwas weggeben können. Er zögerte noch ein wenig, denn
er konnte nicht recht glauben, daß es dem Heidi Ernst sei;
aber dieses hielt erst fest seine Stücke hin, und da Peter
nicht zugriff, legt' es sie ihm auf's Knie. Nun sah er,
daß es ernst gemeint sei, er erfaßte sein Geschenk, nickte in
Dank und Zustimmung und hielt nun ein so reichliches
Mittagsmahl, wie noch nie in seinem Leben als Gaißbub.
Heidi schaute derweilen nach den Gaißen aus. "Wie heißen
sie alle, Peter?" fragte es.

Das wußte dieser nun ganz genau und konnte es um
so besser in seinem Kopf behalten, da er daneben wenig
darin aufzubewahren hatte. Er fing also an und nannte
ohne Anstoß eine nach der andern, immer je mit dem Finger
die betreffende bezeichnend. Heidi hörte mit gespannter Auf¬

„Von meiner Gaiß, von der Schnecke. Fang' einmal
zu eſſen an“, mahnte Peter wieder. Heidi fing bei ſeiner
Milch an, und ſo wie es ſein leeres Schüſſelchen hinſtellte,
ſtand Peter auf und holte ein zweites herbei. Dazu brach
Heidi ein Stück von ſeinem Brod ab, und das ganze
übrige Stück, das immer noch größer war, als Peter's
eignes Stück geweſen, das nun ſchon ſammt der Zubehör
faſt zu Ende war, reichte es dieſem hinüber mit dem ganzen
großen Brocken Käſe und ſagte: „Das kannſt du haben,
ich habe nun genug.“

Peter ſchaute das Heidi mit ſprachloſer Verwunderung
an, denn noch nie in ſeinem Leben hätte er ſo ſagen und
Etwas weggeben können. Er zögerte noch ein wenig, denn
er konnte nicht recht glauben, daß es dem Heidi Ernſt ſei;
aber dieſes hielt erſt feſt ſeine Stücke hin, und da Peter
nicht zugriff, legt' es ſie ihm auf's Knie. Nun ſah er,
daß es ernſt gemeint ſei, er erfaßte ſein Geſchenk, nickte in
Dank und Zuſtimmung und hielt nun ein ſo reichliches
Mittagsmahl, wie noch nie in ſeinem Leben als Gaißbub.
Heidi ſchaute derweilen nach den Gaißen aus. „Wie heißen
ſie alle, Peter?“ fragte es.

Das wußte dieſer nun ganz genau und konnte es um
ſo beſſer in ſeinem Kopf behalten, da er daneben wenig
darin aufzubewahren hatte. Er fing alſo an und nannte
ohne Anſtoß eine nach der andern, immer je mit dem Finger
die betreffende bezeichnend. Heidi hörte mit geſpannter Auf¬

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[40/0050] „Von meiner Gaiß, von der Schnecke. Fang' einmal zu eſſen an“, mahnte Peter wieder. Heidi fing bei ſeiner Milch an, und ſo wie es ſein leeres Schüſſelchen hinſtellte, ſtand Peter auf und holte ein zweites herbei. Dazu brach Heidi ein Stück von ſeinem Brod ab, und das ganze übrige Stück, das immer noch größer war, als Peter's eignes Stück geweſen, das nun ſchon ſammt der Zubehör faſt zu Ende war, reichte es dieſem hinüber mit dem ganzen großen Brocken Käſe und ſagte: „Das kannſt du haben, ich habe nun genug.“ Peter ſchaute das Heidi mit ſprachloſer Verwunderung an, denn noch nie in ſeinem Leben hätte er ſo ſagen und Etwas weggeben können. Er zögerte noch ein wenig, denn er konnte nicht recht glauben, daß es dem Heidi Ernſt ſei; aber dieſes hielt erſt feſt ſeine Stücke hin, und da Peter nicht zugriff, legt' es ſie ihm auf's Knie. Nun ſah er, daß es ernſt gemeint ſei, er erfaßte ſein Geſchenk, nickte in Dank und Zuſtimmung und hielt nun ein ſo reichliches Mittagsmahl, wie noch nie in ſeinem Leben als Gaißbub. Heidi ſchaute derweilen nach den Gaißen aus. „Wie heißen ſie alle, Peter?“ fragte es. Das wußte dieſer nun ganz genau und konnte es um ſo beſſer in ſeinem Kopf behalten, da er daneben wenig darin aufzubewahren hatte. Er fing alſo an und nannte ohne Anſtoß eine nach der andern, immer je mit dem Finger die betreffende bezeichnend. Heidi hörte mit geſpannter Auf¬

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Zitationshilfe: Spyri, Johanna: Heidi's Lehr- und Wanderjahre. Gotha, 1880, S. 40. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spyri_heidi_1880/50>, abgerufen am 29.03.2024.