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Spyri, Johanna: Heidi's Lehr- und Wanderjahre. Gotha, 1880.

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Stille, nur ganz sanft und leise ging der Wind über die
zarten, blauen Glockenblümchen und die golden strahlenden
Cystusröschen, die überall herumstanden auf ihren dünnen
Stengelchen und leise und fröhlich hin- und hernickten.
Der Peter war entschlafen nach seiner Anstrengung und die
Gaißen kletterten oben an den Büschen umher. Dem Heidi
war es so schön zu Muth, wie in seinem Leben noch nie.
Es trank das goldne Sonnenlicht, die frischen Lüfte, den
zarten Blumenduft in sich ein und begehrte gar Nichts
mehr, als so da zu bleiben immerzu. So verging eine
gute Zeit und Heidi hatte so oft und so lange zu den hohen
Bergstöcken drüben aufgeschaut, daß es nun war, als haben
sie alle auch Gesichter bekommen und schauten ganz bekannt
zu ihm hernieder, so wie gute Freunde.

Jetzt hörte Heidi über sich ein lautes, scharfes Geschrei
und Krächzen ertönen, und wie es aufschaute, kreiste über ihm
ein so großer Vogel, wie es nie in seinem Leben gesehen
hatte, mit weitausgebreiteten Schwingen in der Luft umher,
und in großen Bogen kehrte er immer wieder zurück und
krächzte laut und durchdringend über Heidi's Kopf.

"Peter! Peter! erwach'!" rief Heidi laut. "Sieh', der
Raubvogel ist da, sieh'! sieh'!"

Peter erhob sich auf den Ruf und schaute mit Heidi
dem Vogel nach, der sich nun höher und höher hinauf¬
schwang in's Himmelblau und endlich über grauen Felsen
verschwand.

Stille, nur ganz ſanft und leiſe ging der Wind über die
zarten, blauen Glockenblümchen und die golden ſtrahlenden
Cyſtusröschen, die überall herumſtanden auf ihren dünnen
Stengelchen und leiſe und fröhlich hin- und hernickten.
Der Peter war entſchlafen nach ſeiner Anſtrengung und die
Gaißen kletterten oben an den Büſchen umher. Dem Heidi
war es ſo ſchön zu Muth, wie in ſeinem Leben noch nie.
Es trank das goldne Sonnenlicht, die friſchen Lüfte, den
zarten Blumenduft in ſich ein und begehrte gar Nichts
mehr, als ſo da zu bleiben immerzu. So verging eine
gute Zeit und Heidi hatte ſo oft und ſo lange zu den hohen
Bergſtöcken drüben aufgeſchaut, daß es nun war, als haben
ſie alle auch Geſichter bekommen und ſchauten ganz bekannt
zu ihm hernieder, ſo wie gute Freunde.

Jetzt hörte Heidi über ſich ein lautes, ſcharfes Geſchrei
und Krächzen ertönen, und wie es aufſchaute, kreiſte über ihm
ein ſo großer Vogel, wie es nie in ſeinem Leben geſehen
hatte, mit weitausgebreiteten Schwingen in der Luft umher,
und in großen Bogen kehrte er immer wieder zurück und
krächzte laut und durchdringend über Heidi's Kopf.

„Peter! Peter! erwach'!“ rief Heidi laut. „Sieh', der
Raubvogel iſt da, ſieh'! ſieh'!“

Peter erhob ſich auf den Ruf und ſchaute mit Heidi
dem Vogel nach, der ſich nun höher und höher hinauf¬
ſchwang in's Himmelblau und endlich über grauen Felſen
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[37/0047] Stille, nur ganz ſanft und leiſe ging der Wind über die zarten, blauen Glockenblümchen und die golden ſtrahlenden Cyſtusröschen, die überall herumſtanden auf ihren dünnen Stengelchen und leiſe und fröhlich hin- und hernickten. Der Peter war entſchlafen nach ſeiner Anſtrengung und die Gaißen kletterten oben an den Büſchen umher. Dem Heidi war es ſo ſchön zu Muth, wie in ſeinem Leben noch nie. Es trank das goldne Sonnenlicht, die friſchen Lüfte, den zarten Blumenduft in ſich ein und begehrte gar Nichts mehr, als ſo da zu bleiben immerzu. So verging eine gute Zeit und Heidi hatte ſo oft und ſo lange zu den hohen Bergſtöcken drüben aufgeſchaut, daß es nun war, als haben ſie alle auch Geſichter bekommen und ſchauten ganz bekannt zu ihm hernieder, ſo wie gute Freunde. Jetzt hörte Heidi über ſich ein lautes, ſcharfes Geſchrei und Krächzen ertönen, und wie es aufſchaute, kreiſte über ihm ein ſo großer Vogel, wie es nie in ſeinem Leben geſehen hatte, mit weitausgebreiteten Schwingen in der Luft umher, und in großen Bogen kehrte er immer wieder zurück und krächzte laut und durchdringend über Heidi's Kopf. „Peter! Peter! erwach'!“ rief Heidi laut. „Sieh', der Raubvogel iſt da, ſieh'! ſieh'!“ Peter erhob ſich auf den Ruf und ſchaute mit Heidi dem Vogel nach, der ſich nun höher und höher hinauf¬ ſchwang in's Himmelblau und endlich über grauen Felſen verſchwand.

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Zitationshilfe: Spyri, Johanna: Heidi's Lehr- und Wanderjahre. Gotha, 1880, S. 37. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spyri_heidi_1880/47>, abgerufen am 25.04.2024.