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Spyri, Johanna: Heidi's Lehr- und Wanderjahre. Gotha, 1880.

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"Jetzt seh' ich's", erklärte die Barbel, "siehst du dort?"
und sie wies mit dem Zeigefinger weit ab vom Bergpfad.
"Es klettert die Abhänge hinauf mit dem Gaißen-Peter und
seinen Gaißen. Warum der heut' so spät hinauffährt mit
seinen Thieren? Es ist aber grad' recht, er kann nun zu
dem Kinde sehen und du kannst mir um so besser er¬
zählen."

"Mit dem nach ihm Sehen muß sich der Peter nicht
anstrengen", bemerkte die Dete; "es ist nicht dumm für
seine fünf Jahre, es thut seine Augen auf und sieht, was
vorgeht, das hab' ich schon bemerkt an ihm, und es wird
ihm einmal gut kommen, denn der Alte hat gar Nichts
mehr, als seine zwei Gaißen und die Almhütte."

"Hat er denn einmal mehr gehabt?" fragte die
Barbel.

"Der? Ja das denk' ich, daß er einmal mehr gehabt
hat", entgegnete eifrig die Dete, "eins der schönsten Bauern¬
güter im Domleschg hat er gehabt. Er war der ältere
Sohn und hatte nur noch einen Bruder, der war still und
ordentlich. Aber der Aeltere wollte Nichts thun, als den
Herrn spielen und im Land herumfahren und mit bösem
Volk zu thun haben, das Niemand kannte. Den ganzen
Hof hat er verspielt und verzecht, und wie es herauskam,
da sind sein Vater und seine Mutter hinter einander ge¬
storben vor lauter Gram, und der Bruder, der nun auch
am Bettelstab war, ist vor Verdruß in die Welt hinaus,

„Jetzt ſeh' ich's“, erklärte die Barbel, „ſiehſt du dort?“
und ſie wies mit dem Zeigefinger weit ab vom Bergpfad.
„Es klettert die Abhänge hinauf mit dem Gaißen-Peter und
ſeinen Gaißen. Warum der heut' ſo ſpät hinauffährt mit
ſeinen Thieren? Es iſt aber grad' recht, er kann nun zu
dem Kinde ſehen und du kannſt mir um ſo beſſer er¬
zählen.“

„Mit dem nach ihm Sehen muß ſich der Peter nicht
anſtrengen“, bemerkte die Dete; „es iſt nicht dumm für
ſeine fünf Jahre, es thut ſeine Augen auf und ſieht, was
vorgeht, das hab' ich ſchon bemerkt an ihm, und es wird
ihm einmal gut kommen, denn der Alte hat gar Nichts
mehr, als ſeine zwei Gaißen und die Almhütte.“

„Hat er denn einmal mehr gehabt?“ fragte die
Barbel.

„Der? Ja das denk' ich, daß er einmal mehr gehabt
hat“, entgegnete eifrig die Dete, „eins der ſchönſten Bauern¬
güter im Domleſchg hat er gehabt. Er war der ältere
Sohn und hatte nur noch einen Bruder, der war ſtill und
ordentlich. Aber der Aeltere wollte Nichts thun, als den
Herrn ſpielen und im Land herumfahren und mit böſem
Volk zu thun haben, das Niemand kannte. Den ganzen
Hof hat er verſpielt und verzecht, und wie es herauskam,
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[7/0017] „Jetzt ſeh' ich's“, erklärte die Barbel, „ſiehſt du dort?“ und ſie wies mit dem Zeigefinger weit ab vom Bergpfad. „Es klettert die Abhänge hinauf mit dem Gaißen-Peter und ſeinen Gaißen. Warum der heut' ſo ſpät hinauffährt mit ſeinen Thieren? Es iſt aber grad' recht, er kann nun zu dem Kinde ſehen und du kannſt mir um ſo beſſer er¬ zählen.“ „Mit dem nach ihm Sehen muß ſich der Peter nicht anſtrengen“, bemerkte die Dete; „es iſt nicht dumm für ſeine fünf Jahre, es thut ſeine Augen auf und ſieht, was vorgeht, das hab' ich ſchon bemerkt an ihm, und es wird ihm einmal gut kommen, denn der Alte hat gar Nichts mehr, als ſeine zwei Gaißen und die Almhütte.“ „Hat er denn einmal mehr gehabt?“ fragte die Barbel. „Der? Ja das denk' ich, daß er einmal mehr gehabt hat“, entgegnete eifrig die Dete, „eins der ſchönſten Bauern¬ güter im Domleſchg hat er gehabt. Er war der ältere Sohn und hatte nur noch einen Bruder, der war ſtill und ordentlich. Aber der Aeltere wollte Nichts thun, als den Herrn ſpielen und im Land herumfahren und mit böſem Volk zu thun haben, das Niemand kannte. Den ganzen Hof hat er verſpielt und verzecht, und wie es herauskam, da ſind ſein Vater und ſeine Mutter hinter einander ge¬ ſtorben vor lauter Gram, und der Bruder, der nun auch am Bettelſtab war, iſt vor Verdruß in die Welt hinaus,

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Zitationshilfe: Spyri, Johanna: Heidi's Lehr- und Wanderjahre. Gotha, 1880, S. 7. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spyri_heidi_1880/17>, abgerufen am 19.04.2024.