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Spyri, Johanna: Heidi's Lehr- und Wanderjahre. Gotha, 1880.

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Capitel I.
Zum Alm-Oehi hinauf.


Vom freundlichen Dorfe Mayenfeld führt ein Fußweg
durch grüne, baumreiche Fluren bis zum Fuße der Höhen,
die von dieser Seite groß und ernst auf das Thal her¬
niederschauen. Wo der Fußweg zu steigen anfängt, be¬
ginnt bald Haideland mit dem kurzen Gras und den kräf¬
tigen Bergkräutern dem Kommenden entgegenzuduften, denn
der Fußweg geht steil und direkt zu den Alpen hinauf.

Auf diesem schmalen Bergpfade stieg am hellen, sonnigen
Junimorgen ein großes, kräftig aussehendes Mädchen dieses
Berglandes hinan, ein Kind an der Hand führend, dessen
Wangen so glühend waren, daß sie selbst die sonnverbrannte,
völlig braune Haut des Kindes flammendroth durchleuchteten.
Es war auch kein Wunder, das Kind war trotz der heißen
Junisonne so verpackt, als hätte es sich eines bitteren Frostes
zu erwehren. Das kleine Mädchen mochte kaum fünf Jahre
zählen; was aber seine natürliche Gestalt war, konnte man
nicht ersehen, denn es hatte sichtlich zwei, wenn nicht drei

Kleine Geschichten. III. 1
Capitel I.
Zum Alm-Oehi hinauf.


Vom freundlichen Dorfe Mayenfeld führt ein Fußweg
durch grüne, baumreiche Fluren bis zum Fuße der Höhen,
die von dieſer Seite groß und ernſt auf das Thal her¬
niederſchauen. Wo der Fußweg zu ſteigen anfängt, be¬
ginnt bald Haideland mit dem kurzen Gras und den kräf¬
tigen Bergkräutern dem Kommenden entgegenzuduften, denn
der Fußweg geht ſteil und direkt zu den Alpen hinauf.

Auf dieſem ſchmalen Bergpfade ſtieg am hellen, ſonnigen
Junimorgen ein großes, kräftig ausſehendes Mädchen dieſes
Berglandes hinan, ein Kind an der Hand führend, deſſen
Wangen ſo glühend waren, daß ſie ſelbſt die ſonnverbrannte,
völlig braune Haut des Kindes flammendroth durchleuchteten.
Es war auch kein Wunder, das Kind war trotz der heißen
Juniſonne ſo verpackt, als hätte es ſich eines bitteren Froſtes
zu erwehren. Das kleine Mädchen mochte kaum fünf Jahre
zählen; was aber ſeine natürliche Geſtalt war, konnte man
nicht erſehen, denn es hatte ſichtlich zwei, wenn nicht drei

Kleine Geſchichten. III. 1
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[0011] Capitel I. Zum Alm-Oehi hinauf. Vom freundlichen Dorfe Mayenfeld führt ein Fußweg durch grüne, baumreiche Fluren bis zum Fuße der Höhen, die von dieſer Seite groß und ernſt auf das Thal her¬ niederſchauen. Wo der Fußweg zu ſteigen anfängt, be¬ ginnt bald Haideland mit dem kurzen Gras und den kräf¬ tigen Bergkräutern dem Kommenden entgegenzuduften, denn der Fußweg geht ſteil und direkt zu den Alpen hinauf. Auf dieſem ſchmalen Bergpfade ſtieg am hellen, ſonnigen Junimorgen ein großes, kräftig ausſehendes Mädchen dieſes Berglandes hinan, ein Kind an der Hand führend, deſſen Wangen ſo glühend waren, daß ſie ſelbſt die ſonnverbrannte, völlig braune Haut des Kindes flammendroth durchleuchteten. Es war auch kein Wunder, das Kind war trotz der heißen Juniſonne ſo verpackt, als hätte es ſich eines bitteren Froſtes zu erwehren. Das kleine Mädchen mochte kaum fünf Jahre zählen; was aber ſeine natürliche Geſtalt war, konnte man nicht erſehen, denn es hatte ſichtlich zwei, wenn nicht drei Kleine Geſchichten. III. 1

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Zitationshilfe: Spyri, Johanna: Heidi's Lehr- und Wanderjahre. Gotha, 1880, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spyri_heidi_1880/11>, abgerufen am 28.03.2024.