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Spielhagen, Friedrich: Problematische Naturen. Bd. 3. Berlin, 1861.

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rungen von Byron und Lamartine las, bis ich sie
auswendig wußte -- es half Alles nichts. Ich brachte
es nicht weiter, wie der arme Werther, als ihm die
ewige Natur wie ein lackirtes Bild erschien; und ein
paar Bettelbuben, die sich auf dem Sande des Stran¬
des balgten, und ein armer Fellah, der sein Wasser¬
rad drehte, waren mir interessanter, als der Golf von
Neapel und der Nil. Ich habe nur an Menschen
und Menschentreiben meine Freude -- von der Natur
verstehe ich ein für alle Mal nichts."

"Aber warum verbannen Sie sich denn in diese
Einsamkeit? warum wohnen Sie, da Sie es doch
haben können, anstatt hier an diesem nordischen
Strande, nicht lieber an dem Boulevard des Capu¬
cines
, oder in London auf dem Pall-Mall?"

"Aus demselben Grunde, aus welchem man den
Falken, bevor man ihn auf die Gazellenjagd nimmt,
vierundzwanzig Stunden fasten läßt -- um meinen
Hunger nach meiner Lieblingsnahrung zu schärfen.
Wenn ich hier ein paar Wochen gehaust habe, sind
meine Sinne wieder frisch und empfänglich, und das
Schauspiel des Menschentreibens hat wieder seinen
alten Reiz für mich."

"Und wie lange gedenken Sie diesmal hier zu
bleiben?"

rungen von Byron und Lamartine las, bis ich ſie
auswendig wußte — es half Alles nichts. Ich brachte
es nicht weiter, wie der arme Werther, als ihm die
ewige Natur wie ein lackirtes Bild erſchien; und ein
paar Bettelbuben, die ſich auf dem Sande des Stran¬
des balgten, und ein armer Fellah, der ſein Waſſer¬
rad drehte, waren mir intereſſanter, als der Golf von
Neapel und der Nil. Ich habe nur an Menſchen
und Menſchentreiben meine Freude — von der Natur
verſtehe ich ein für alle Mal nichts.“

„Aber warum verbannen Sie ſich denn in dieſe
Einſamkeit? warum wohnen Sie, da Sie es doch
haben können, anſtatt hier an dieſem nordiſchen
Strande, nicht lieber an dem Boulevard des Capu¬
cines
, oder in London auf dem Pall-Mall?“

„Aus demſelben Grunde, aus welchem man den
Falken, bevor man ihn auf die Gazellenjagd nimmt,
vierundzwanzig Stunden faſten läßt — um meinen
Hunger nach meiner Lieblingsnahrung zu ſchärfen.
Wenn ich hier ein paar Wochen gehauſt habe, ſind
meine Sinne wieder friſch und empfänglich, und das
Schauſpiel des Menſchentreibens hat wieder ſeinen
alten Reiz für mich.“

„Und wie lange gedenken Sie diesmal hier zu
bleiben?“

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[20/0030] rungen von Byron und Lamartine las, bis ich ſie auswendig wußte — es half Alles nichts. Ich brachte es nicht weiter, wie der arme Werther, als ihm die ewige Natur wie ein lackirtes Bild erſchien; und ein paar Bettelbuben, die ſich auf dem Sande des Stran¬ des balgten, und ein armer Fellah, der ſein Waſſer¬ rad drehte, waren mir intereſſanter, als der Golf von Neapel und der Nil. Ich habe nur an Menſchen und Menſchentreiben meine Freude — von der Natur verſtehe ich ein für alle Mal nichts.“ „Aber warum verbannen Sie ſich denn in dieſe Einſamkeit? warum wohnen Sie, da Sie es doch haben können, anſtatt hier an dieſem nordiſchen Strande, nicht lieber an dem Boulevard des Capu¬ cines, oder in London auf dem Pall-Mall?“ „Aus demſelben Grunde, aus welchem man den Falken, bevor man ihn auf die Gazellenjagd nimmt, vierundzwanzig Stunden faſten läßt — um meinen Hunger nach meiner Lieblingsnahrung zu ſchärfen. Wenn ich hier ein paar Wochen gehauſt habe, ſind meine Sinne wieder friſch und empfänglich, und das Schauſpiel des Menſchentreibens hat wieder ſeinen alten Reiz für mich.“ „Und wie lange gedenken Sie diesmal hier zu bleiben?“

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Zitationshilfe: Spielhagen, Friedrich: Problematische Naturen. Bd. 3. Berlin, 1861, S. 20. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spielhagen_problematische03_1861/30>, abgerufen am 29.03.2024.