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Spielhagen, Friedrich: Problematische Naturen. Bd. 2. Berlin, 1861.

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Mann behandelten, der ihr soeben als eine gefallene
Größe denuncirt war. Sie bereitete sich schon im
Stillen auf eine Strafpredigt vor, die sie auf der
Heimfahrt ihrem Jäger halten wollte, der "wieder
einmal nach seiner Gewohnheit den Wald vor Bäumen
nicht gesehen hatte." Der würdige Geistliche selbst
war für den ersten Augenblick durch den vollkommenen
Widerspruch zwischen den Worten und der Handlungs¬
weise der Baronin aus der Fassung gebracht. Er
wußte indessen besser, als irgend Einer, daß die Menschen
nicht immer scheinen, was sie sind und nicht immer
sind, was sie scheinen, und hielt es auf alle Fälle für
das Gerathenste, das Benehmen seiner Gönnerin
möglichst treu zu copiren, was ihm bei seiner voll¬
endeten Virtuosität in der edlen Kunst der Heuchelei
natürlich nicht schwer fallen konnte.

Indessen würde trotz des scheinbaren guten Einver¬
nehmens der Gesellschaft die Unterhaltung bei der
Abendmahlzeit, die auf der Terrasse im Freien einge¬
nommen wurde, nicht besonders lebhaft gewesen sein,
hätte Herrn Timm's Gemüth die Eigenschaft gehabt,
die Farbe seiner Umgebung anzunehmen. Dies war
indessen durchaus nicht der Fall.

Herr Timm hatte sein Versprechen, bei Tische mit
guter Laune und noch besserem Appetit zu erscheinen

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Mann behandelten, der ihr ſoeben als eine gefallene
Größe denuncirt war. Sie bereitete ſich ſchon im
Stillen auf eine Strafpredigt vor, die ſie auf der
Heimfahrt ihrem Jäger halten wollte, der „wieder
einmal nach ſeiner Gewohnheit den Wald vor Bäumen
nicht geſehen hatte.“ Der würdige Geiſtliche ſelbſt
war für den erſten Augenblick durch den vollkommenen
Widerſpruch zwiſchen den Worten und der Handlungs¬
weiſe der Baronin aus der Faſſung gebracht. Er
wußte indeſſen beſſer, als irgend Einer, daß die Menſchen
nicht immer ſcheinen, was ſie ſind und nicht immer
ſind, was ſie ſcheinen, und hielt es auf alle Fälle für
das Gerathenſte, das Benehmen ſeiner Gönnerin
möglichſt treu zu copiren, was ihm bei ſeiner voll¬
endeten Virtuoſität in der edlen Kunſt der Heuchelei
natürlich nicht ſchwer fallen konnte.

Indeſſen würde trotz des ſcheinbaren guten Einver¬
nehmens der Geſellſchaft die Unterhaltung bei der
Abendmahlzeit, die auf der Terraſſe im Freien einge¬
nommen wurde, nicht beſonders lebhaft geweſen ſein,
hätte Herrn Timm's Gemüth die Eigenſchaft gehabt,
die Farbe ſeiner Umgebung anzunehmen. Dies war
indeſſen durchaus nicht der Fall.

Herr Timm hatte ſein Verſprechen, bei Tiſche mit
guter Laune und noch beſſerem Appetit zu erſcheinen

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[163/0173] Mann behandelten, der ihr ſoeben als eine gefallene Größe denuncirt war. Sie bereitete ſich ſchon im Stillen auf eine Strafpredigt vor, die ſie auf der Heimfahrt ihrem Jäger halten wollte, der „wieder einmal nach ſeiner Gewohnheit den Wald vor Bäumen nicht geſehen hatte.“ Der würdige Geiſtliche ſelbſt war für den erſten Augenblick durch den vollkommenen Widerſpruch zwiſchen den Worten und der Handlungs¬ weiſe der Baronin aus der Faſſung gebracht. Er wußte indeſſen beſſer, als irgend Einer, daß die Menſchen nicht immer ſcheinen, was ſie ſind und nicht immer ſind, was ſie ſcheinen, und hielt es auf alle Fälle für das Gerathenſte, das Benehmen ſeiner Gönnerin möglichſt treu zu copiren, was ihm bei ſeiner voll¬ endeten Virtuoſität in der edlen Kunſt der Heuchelei natürlich nicht ſchwer fallen konnte. Indeſſen würde trotz des ſcheinbaren guten Einver¬ nehmens der Geſellſchaft die Unterhaltung bei der Abendmahlzeit, die auf der Terraſſe im Freien einge¬ nommen wurde, nicht beſonders lebhaft geweſen ſein, hätte Herrn Timm's Gemüth die Eigenſchaft gehabt, die Farbe ſeiner Umgebung anzunehmen. Dies war indeſſen durchaus nicht der Fall. Herr Timm hatte ſein Verſprechen, bei Tiſche mit guter Laune und noch beſſerem Appetit zu erſcheinen 11*

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Zitationshilfe: Spielhagen, Friedrich: Problematische Naturen. Bd. 2. Berlin, 1861, S. 163. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spielhagen_problematische02_1861/173>, abgerufen am 24.04.2024.