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Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890.

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von unreifen Menschen oder solchen von entweder niedrige-
rer Geistesausbildung oder unbeherrschteren Empfindungen.
Übrigens ist noch auf unserer augenblicklichen Entwicklungs-
stufe kaum jemand ganz frei davon, nach grossem Leid, das uns
namentlich Bosheit und Betrug zugefügt haben, gegen dritte,
unschuldige Personen unbarmherziger als sonst zu sein --
freilich nicht ohne das Nachgefühl, durch diesen Mangel an
Differenzierung im Empfinden uns selbst zu degradieren.
Aus jener doppelten Differenzierung ergeben sich z. B. für
die Pädagogik wichtige Folgen. Niederen Kulturepochen ist
es eigen, mit dem Begriff der Erziehung vor allem den der
Züchtigung zu verbinden, deren Ziel die Unterdrückung und
Ausrottung der Triebe ist; je mehr die Kultur steigt, desto
mehr wird dahin gestrebt, die Kraft, die auch in den unsitt-
lichen Trieben liegt, nicht schlechthin durch Züchtigung zu
brechen, sondern solche Zustände zu schaffen, in denen sie
sich nützlich bethätigen kann, ja in denen die thatsächliche
Unsittlichkeit als solche selbst anderweitig nützliches schafft,
ungefähr wie die technische Kultur das früher Weggeworfene
oder sogar Hinderliche immer mehr auszunutzen versteht.
Dies ist nur durch Differenzierung möglich, indem die Arten
und Beziehungen des Handelns und Empfindens immer mehr
aus der Form umfassender Komplexe gelöst werden, in der
sie zunächst auftreten, und in der das Loos des einen Gliedes
das des anderen solidarisch mitbestimmt. Erst wenn jede
Beziehung, jeder Bestandteil des öffentlichen und persönlichen
Lebens sich zu derartiger Selbständigkeit differenziert hat,
dass ihm ein individuelles Leiden und Handeln möglich ist,
ohne dass mechanische Verflechtungen mit sachlich heteroge-
nen Elementen diese in das gleiche Schicksal hineinzögen, --
erst dann wird es möglich, die schädlichen Elemente in rein-
licher Abgrenzung zu entfernen, ohne die angrenzenden nütz-
lichen anzugreifen. So erlauben differenziertere medizinische
Kenntnisse, erkrankte Körperteile in genau circumscripter
Weise zu entfernen, wo früher gleich ein ganzes Glied abge-
schnitten wurde; z. B. bei schweren Kniegelenkentzündungen
wird jetzt nur Gelenkresektion vorgenommen, während früher
der ganze Oberschenkel amputiert wurde, und ähnliches. Nun
hat indes die Differenzierung in der Strafe, insbesondere der
kriminalistischen, sehr bald eine Grenze. Man nimmt eine
so weit einheitliche Seele an, dass eben da, von wo die That
ausging, auch der Schmerz der Strafe empfunden werde, und
kann deshalb für eine Ehrenkränkung, einen Betrug, ein Sitt-
lichkeitsvergehen auf dieselbe Strafe erkennen. Die Anfänge
einer Differenzierung in diesen Punkten sind sehr dürftig:
dass etwa Festungshaft auf solche Vergehen gesetzt ist, die
die gesellschaftliche Ehre des Thäters unberührt lassen,
und einiges ähnliche. Indessen ist jedenfalls schon die

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von unreifen Menschen oder solchen von entweder niedrige-
rer Geistesausbildung oder unbeherrschteren Empfindungen.
Übrigens ist noch auf unserer augenblicklichen Entwicklungs-
stufe kaum jemand ganz frei davon, nach groſsem Leid, das uns
namentlich Bosheit und Betrug zugefügt haben, gegen dritte,
unschuldige Personen unbarmherziger als sonst zu sein —
freilich nicht ohne das Nachgefühl, durch diesen Mangel an
Differenzierung im Empfinden uns selbst zu degradieren.
Aus jener doppelten Differenzierung ergeben sich z. B. für
die Pädagogik wichtige Folgen. Niederen Kulturepochen ist
es eigen, mit dem Begriff der Erziehung vor allem den der
Züchtigung zu verbinden, deren Ziel die Unterdrückung und
Ausrottung der Triebe ist; je mehr die Kultur steigt, desto
mehr wird dahin gestrebt, die Kraft, die auch in den unsitt-
lichen Trieben liegt, nicht schlechthin durch Züchtigung zu
brechen, sondern solche Zustände zu schaffen, in denen sie
sich nützlich bethätigen kann, ja in denen die thatsächliche
Unsittlichkeit als solche selbst anderweitig nützliches schafft,
ungefähr wie die technische Kultur das früher Weggeworfene
oder sogar Hinderliche immer mehr auszunutzen versteht.
Dies ist nur durch Differenzierung möglich, indem die Arten
und Beziehungen des Handelns und Empfindens immer mehr
aus der Form umfassender Komplexe gelöst werden, in der
sie zunächst auftreten, und in der das Loos des einen Gliedes
das des anderen solidarisch mitbestimmt. Erst wenn jede
Beziehung, jeder Bestandteil des öffentlichen und persönlichen
Lebens sich zu derartiger Selbständigkeit differenziert hat,
daſs ihm ein individuelles Leiden und Handeln möglich ist,
ohne daſs mechanische Verflechtungen mit sachlich heteroge-
nen Elementen diese in das gleiche Schicksal hineinzögen, —
erst dann wird es möglich, die schädlichen Elemente in rein-
licher Abgrenzung zu entfernen, ohne die angrenzenden nütz-
lichen anzugreifen. So erlauben differenziertere medizinische
Kenntnisse, erkrankte Körperteile in genau circumscripter
Weise zu entfernen, wo früher gleich ein ganzes Glied abge-
schnitten wurde; z. B. bei schweren Kniegelenkentzündungen
wird jetzt nur Gelenkresektion vorgenommen, während früher
der ganze Oberschenkel amputiert wurde, und ähnliches. Nun
hat indes die Differenzierung in der Strafe, insbesondere der
kriminalistischen, sehr bald eine Grenze. Man nimmt eine
so weit einheitliche Seele an, daſs eben da, von wo die That
ausging, auch der Schmerz der Strafe empfunden werde, und
kann deshalb für eine Ehrenkränkung, einen Betrug, ein Sitt-
lichkeitsvergehen auf dieselbe Strafe erkennen. Die Anfänge
einer Differenzierung in diesen Punkten sind sehr dürftig:
daſs etwa Festungshaft auf solche Vergehen gesetzt ist, die
die gesellschaftliche Ehre des Thäters unberührt lassen,
und einiges ähnliche. Indessen ist jedenfalls schon die

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[35/0049] X 1. von unreifen Menschen oder solchen von entweder niedrige- rer Geistesausbildung oder unbeherrschteren Empfindungen. Übrigens ist noch auf unserer augenblicklichen Entwicklungs- stufe kaum jemand ganz frei davon, nach groſsem Leid, das uns namentlich Bosheit und Betrug zugefügt haben, gegen dritte, unschuldige Personen unbarmherziger als sonst zu sein — freilich nicht ohne das Nachgefühl, durch diesen Mangel an Differenzierung im Empfinden uns selbst zu degradieren. Aus jener doppelten Differenzierung ergeben sich z. B. für die Pädagogik wichtige Folgen. Niederen Kulturepochen ist es eigen, mit dem Begriff der Erziehung vor allem den der Züchtigung zu verbinden, deren Ziel die Unterdrückung und Ausrottung der Triebe ist; je mehr die Kultur steigt, desto mehr wird dahin gestrebt, die Kraft, die auch in den unsitt- lichen Trieben liegt, nicht schlechthin durch Züchtigung zu brechen, sondern solche Zustände zu schaffen, in denen sie sich nützlich bethätigen kann, ja in denen die thatsächliche Unsittlichkeit als solche selbst anderweitig nützliches schafft, ungefähr wie die technische Kultur das früher Weggeworfene oder sogar Hinderliche immer mehr auszunutzen versteht. Dies ist nur durch Differenzierung möglich, indem die Arten und Beziehungen des Handelns und Empfindens immer mehr aus der Form umfassender Komplexe gelöst werden, in der sie zunächst auftreten, und in der das Loos des einen Gliedes das des anderen solidarisch mitbestimmt. Erst wenn jede Beziehung, jeder Bestandteil des öffentlichen und persönlichen Lebens sich zu derartiger Selbständigkeit differenziert hat, daſs ihm ein individuelles Leiden und Handeln möglich ist, ohne daſs mechanische Verflechtungen mit sachlich heteroge- nen Elementen diese in das gleiche Schicksal hineinzögen, — erst dann wird es möglich, die schädlichen Elemente in rein- licher Abgrenzung zu entfernen, ohne die angrenzenden nütz- lichen anzugreifen. So erlauben differenziertere medizinische Kenntnisse, erkrankte Körperteile in genau circumscripter Weise zu entfernen, wo früher gleich ein ganzes Glied abge- schnitten wurde; z. B. bei schweren Kniegelenkentzündungen wird jetzt nur Gelenkresektion vorgenommen, während früher der ganze Oberschenkel amputiert wurde, und ähnliches. Nun hat indes die Differenzierung in der Strafe, insbesondere der kriminalistischen, sehr bald eine Grenze. Man nimmt eine so weit einheitliche Seele an, daſs eben da, von wo die That ausging, auch der Schmerz der Strafe empfunden werde, und kann deshalb für eine Ehrenkränkung, einen Betrug, ein Sitt- lichkeitsvergehen auf dieselbe Strafe erkennen. Die Anfänge einer Differenzierung in diesen Punkten sind sehr dürftig: daſs etwa Festungshaft auf solche Vergehen gesetzt ist, die die gesellschaftliche Ehre des Thäters unberührt lassen, und einiges ähnliche. Indessen ist jedenfalls schon die 3*

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Zitationshilfe: Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890, S. 35. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_differenzierung_1890/49>, abgerufen am 24.04.2024.