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Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890.

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über den sie nicht hinausragte, und selbst wo wir den Bei-
trag einzelner Menschen meinen feststellen zu können, da
bleibt noch immer die Frage, ob diese nicht auch ihr We-
sentliches von jenem öffentlichen Besitz empfangen haben, der
sich in ihnen nur konzentrierte oder originell formte. Die
Schwierigkeiten, die sich in dem Verhältnisse zwischen dem
Allgemeinen und dem Individuellen in sociologischer Be-
ziehung finden, entsprechen ganz denen, die es in rein er-
kenntnistheoretischer Hinsicht aufweist, wie sie sich denn
auch in den praktischen Schwierigkeiten und Kontroversen
über die reale Gestaltung dieses Verhältnisses spiegeln.

Ich glaube nun, dass die eigentümlichen Widersprüche,
die jenes Verhältnis im Theoretischen zeigt und die in dem
mittelalterlichen, aber noch immer in andern Formen fort-
lebenden Gegensatz von Nominalismus und Realismus auf-
fälligste Gestaltung gewonnen haben, eigentlich nur aus mangel-
hafter Denkgewohnheit stammen können. Die Formen und
Kategorieen unseres Denkens und unserer Ausdrücke für das
Gedachte haben sich zu Zeiten gebildet, in denen die primi-
tiven Geister von einerseits höchst einfachen, andererseits
verworren komplizierten Vorstellungen erfüllt waren, was
durch die Einfachheit unkultivierter Lebensinteressen und
durch das Vorherrschen der psychologischen Association vor
der logischen Abstraktion begreiflich wird. Die Probleme
späterer Zeiten drehen sich um Begriffe und Verhältnisse,
von denen die früheren keine Ahnung hatten, zu deren Be-
wältigung aber nur diejenigen Denk- und Sprechformen da
sind, die von den letzteren zu ganz anderen Zwecken ge-
prägt sind; diese Formen sind längst erstarrt, wenn es sich
darum handelt, einen ganz neuen Inhalt in sie aufzunehmen,
der sich nie vollkommen mit ihnen decken wird und der
eigentlich ganz andere, jetzt aber nicht mehr herstellbare Denk-
bewegungen fordert. Schon für die psychischen Vorgänge
haben wir keine besonderen Ausdrücke mehr, sondern müssen
uns an die Vorstellungen äusserer Sinne halten, wenn wir
uns ihre Bewegungen, Reibungen, quantitativen Verhältnisse
etc. zum Bewusstsein bringen wollen, weil viel eher die
Aussenwelt als die psychischen Ereignisse als solche Gegen-
stände der menschlichen Aufmerksamkeit waren und, als die
letzteren diese errangen, die Sprache nicht mehr schöpferisch
genug war, um eigenartige Ausdrücke für sie zu formen,
sondern zu Analogieen mit den ganz inadäquaten Vorstellun-
gen des räumlichen Geschehens greifen musste. Je allge-
meiner und umfassender die Gegenstände unserer Frage-
stellung sind, desto weiter liegen sie hinter dem Horizonte,
der die Epoche der Sprach- und Denkbildung umgrenzte,
desto unhaltbarere, oder nur durch eine Umbildung der Denk-

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über den sie nicht hinausragte, und selbst wo wir den Bei-
trag einzelner Menschen meinen feststellen zu können, da
bleibt noch immer die Frage, ob diese nicht auch ihr We-
sentliches von jenem öffentlichen Besitz empfangen haben, der
sich in ihnen nur konzentrierte oder originell formte. Die
Schwierigkeiten, die sich in dem Verhältnisse zwischen dem
Allgemeinen und dem Individuellen in sociologischer Be-
ziehung finden, entsprechen ganz denen, die es in rein er-
kenntnistheoretischer Hinsicht aufweist, wie sie sich denn
auch in den praktischen Schwierigkeiten und Kontroversen
über die reale Gestaltung dieses Verhältnisses spiegeln.

Ich glaube nun, daſs die eigentümlichen Widersprüche,
die jenes Verhältnis im Theoretischen zeigt und die in dem
mittelalterlichen, aber noch immer in andern Formen fort-
lebenden Gegensatz von Nominalismus und Realismus auf-
fälligste Gestaltung gewonnen haben, eigentlich nur aus mangel-
hafter Denkgewohnheit stammen können. Die Formen und
Kategorieen unseres Denkens und unserer Ausdrücke für das
Gedachte haben sich zu Zeiten gebildet, in denen die primi-
tiven Geister von einerseits höchst einfachen, andererseits
verworren komplizierten Vorstellungen erfüllt waren, was
durch die Einfachheit unkultivierter Lebensinteressen und
durch das Vorherrschen der psychologischen Association vor
der logischen Abstraktion begreiflich wird. Die Probleme
späterer Zeiten drehen sich um Begriffe und Verhältnisse,
von denen die früheren keine Ahnung hatten, zu deren Be-
wältigung aber nur diejenigen Denk- und Sprechformen da
sind, die von den letzteren zu ganz anderen Zwecken ge-
prägt sind; diese Formen sind längst erstarrt, wenn es sich
darum handelt, einen ganz neuen Inhalt in sie aufzunehmen,
der sich nie vollkommen mit ihnen decken wird und der
eigentlich ganz andere, jetzt aber nicht mehr herstellbare Denk-
bewegungen fordert. Schon für die psychischen Vorgänge
haben wir keine besonderen Ausdrücke mehr, sondern müssen
uns an die Vorstellungen äuſserer Sinne halten, wenn wir
uns ihre Bewegungen, Reibungen, quantitativen Verhältnisse
etc. zum Bewuſstsein bringen wollen, weil viel eher die
Auſsenwelt als die psychischen Ereignisse als solche Gegen-
stände der menschlichen Aufmerksamkeit waren und, als die
letzteren diese errangen, die Sprache nicht mehr schöpferisch
genug war, um eigenartige Ausdrücke für sie zu formen,
sondern zu Analogieen mit den ganz inadäquaten Vorstellun-
gen des räumlichen Geschehens greifen muſste. Je allge-
meiner und umfassender die Gegenstände unserer Frage-
stellung sind, desto weiter liegen sie hinter dem Horizonte,
der die Epoche der Sprach- und Denkbildung umgrenzte,
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[18/0032] X 1. über den sie nicht hinausragte, und selbst wo wir den Bei- trag einzelner Menschen meinen feststellen zu können, da bleibt noch immer die Frage, ob diese nicht auch ihr We- sentliches von jenem öffentlichen Besitz empfangen haben, der sich in ihnen nur konzentrierte oder originell formte. Die Schwierigkeiten, die sich in dem Verhältnisse zwischen dem Allgemeinen und dem Individuellen in sociologischer Be- ziehung finden, entsprechen ganz denen, die es in rein er- kenntnistheoretischer Hinsicht aufweist, wie sie sich denn auch in den praktischen Schwierigkeiten und Kontroversen über die reale Gestaltung dieses Verhältnisses spiegeln. Ich glaube nun, daſs die eigentümlichen Widersprüche, die jenes Verhältnis im Theoretischen zeigt und die in dem mittelalterlichen, aber noch immer in andern Formen fort- lebenden Gegensatz von Nominalismus und Realismus auf- fälligste Gestaltung gewonnen haben, eigentlich nur aus mangel- hafter Denkgewohnheit stammen können. Die Formen und Kategorieen unseres Denkens und unserer Ausdrücke für das Gedachte haben sich zu Zeiten gebildet, in denen die primi- tiven Geister von einerseits höchst einfachen, andererseits verworren komplizierten Vorstellungen erfüllt waren, was durch die Einfachheit unkultivierter Lebensinteressen und durch das Vorherrschen der psychologischen Association vor der logischen Abstraktion begreiflich wird. Die Probleme späterer Zeiten drehen sich um Begriffe und Verhältnisse, von denen die früheren keine Ahnung hatten, zu deren Be- wältigung aber nur diejenigen Denk- und Sprechformen da sind, die von den letzteren zu ganz anderen Zwecken ge- prägt sind; diese Formen sind längst erstarrt, wenn es sich darum handelt, einen ganz neuen Inhalt in sie aufzunehmen, der sich nie vollkommen mit ihnen decken wird und der eigentlich ganz andere, jetzt aber nicht mehr herstellbare Denk- bewegungen fordert. Schon für die psychischen Vorgänge haben wir keine besonderen Ausdrücke mehr, sondern müssen uns an die Vorstellungen äuſserer Sinne halten, wenn wir uns ihre Bewegungen, Reibungen, quantitativen Verhältnisse etc. zum Bewuſstsein bringen wollen, weil viel eher die Auſsenwelt als die psychischen Ereignisse als solche Gegen- stände der menschlichen Aufmerksamkeit waren und, als die letzteren diese errangen, die Sprache nicht mehr schöpferisch genug war, um eigenartige Ausdrücke für sie zu formen, sondern zu Analogieen mit den ganz inadäquaten Vorstellun- gen des räumlichen Geschehens greifen muſste. Je allge- meiner und umfassender die Gegenstände unserer Frage- stellung sind, desto weiter liegen sie hinter dem Horizonte, der die Epoche der Sprach- und Denkbildung umgrenzte, desto unhaltbarere, oder nur durch eine Umbildung der Denk-

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Zitationshilfe: Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890, S. 18. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_differenzierung_1890/32>, abgerufen am 25.04.2024.