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Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890.

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nicht die absolute Einheit, die ein nur mit den letzten Reali-
täten rechnendes Erkennen fordert. Die Vielheit, die schon
der individuelle Mensch in und an sich aufweist, als solche
zu durchschauen, ist wie ich glaube eine der wichtigsten Vor-
bedingungen für eine rationelle Grundlegung der Gesellschafts-
wissenschaft, der ich deshalb hier näher treten möchte.

Solange der Mensch, ebenso wie alle organischen Arten,
als ein Schöpfungsgedanke Gottes galt, als ein Wesen, das
mit all seinen Eigenschaften fertig ausgestattet in die Welt
trat, da lag es nahe und war fast erfordert, den einzelnen
Menschen als eine geschlossene Einheit anzusehen, als unteil-
bare Persönlichkeit, deren "einfache" Seele in der einheit-
lichen Zusammengehörigkeit ihrer körperlichen Organe Aus-
druck und Analogie fand. Die entwicklungsgeschichtliche
Weltanschauung macht dies unmöglich. Wenn wir die un-
ermesslichen Wandlungen bedenken, die die Organismen durch-
machen mussten, ehe sie von ihren primitivsten Formen sich
zum Menschengeschlecht aufgipfeln konnten, die entsprechende
Unermesslichkeit der Einflüsse und Lebensbedingungen, deren
Zufälligkeiten und Entgegengesetztheiten jede Generation aus-
gesetzt ist, endlich die organische Bildsamkeit und die Ver-
erbung, vermöge deren jeder dieser wechselnden Zustände
irgend ein Merkmal, eine Modifikation auf jeden Nachkommen
abgelagert hat: so erscheint jene absolute, metaphysische Einheit
des Menschen in einem sehr bedenklichen Lichte. Er ist viel-
mehr die Summe und das Produkt der allermannichfaltigsten
Faktoren, von denen man sowohl der Qualität wie der Funktion
nach nur in sehr ungefährem und relativem Sinne sagen kann,
dass sie zu einer Einheit zusammengehen. Auch ist es physio-
logisch längst anerkannt, dass jeder Organismus sozusagen ein
Staat aus Staaten ist, dass seine Teile immer noch eine ge-
wisse gegenseitige Unabhängigkeit besitzen und als eigentliche
organische Einheit nur die Zelle anzusehen ist; und auch
diese letztere ist nur für den Physiologen und nur insofern
eine Einheit, als sie, abgesehen von den aus blossem Proto-
plasma bestehenden Wesen, das einfachste Gebilde ist, an das
sich noch Lebenserscheinungen knüpfen, während sie an und
für sich eine höchst komplizierte Zusammensetzung chemischer
Urbestandteile ist. Wenn man den Individualismus wirklich
konsequent verfolgt, so bleiben als reale Wesen nur die
punktuellen Atome übrig und alles Zusammengesetzte fällt
als solches unter den Gesichtspunkt der Realität geringeren
Grades. Und was man sich unter der Einheit der Seele kon-
kret zu denken habe, weiss kein Mensch. Dass irgendwo in
uns ein bestimmtes Wesen sässe, das der alleinige und ein-
fache Träger der psychischen Erscheinungen wäre, ist ein
völlig unbewiesener und erkenntnistheoretisch unhaltbarer
Glaubensartikel. Und nicht nur auf die einheitliche Substanz

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nicht die absolute Einheit, die ein nur mit den letzten Reali-
täten rechnendes Erkennen fordert. Die Vielheit, die schon
der individuelle Mensch in und an sich aufweist, als solche
zu durchschauen, ist wie ich glaube eine der wichtigsten Vor-
bedingungen für eine rationelle Grundlegung der Gesellschafts-
wissenschaft, der ich deshalb hier näher treten möchte.

Solange der Mensch, ebenso wie alle organischen Arten,
als ein Schöpfungsgedanke Gottes galt, als ein Wesen, das
mit all seinen Eigenschaften fertig ausgestattet in die Welt
trat, da lag es nahe und war fast erfordert, den einzelnen
Menschen als eine geschlossene Einheit anzusehen, als unteil-
bare Persönlichkeit, deren „einfache“ Seele in der einheit-
lichen Zusammengehörigkeit ihrer körperlichen Organe Aus-
druck und Analogie fand. Die entwicklungsgeschichtliche
Weltanschauung macht dies unmöglich. Wenn wir die un-
ermeſslichen Wandlungen bedenken, die die Organismen durch-
machen muſsten, ehe sie von ihren primitivsten Formen sich
zum Menschengeschlecht aufgipfeln konnten, die entsprechende
Unermeſslichkeit der Einflüsse und Lebensbedingungen, deren
Zufälligkeiten und Entgegengesetztheiten jede Generation aus-
gesetzt ist, endlich die organische Bildsamkeit und die Ver-
erbung, vermöge deren jeder dieser wechselnden Zustände
irgend ein Merkmal, eine Modifikation auf jeden Nachkommen
abgelagert hat: so erscheint jene absolute, metaphysische Einheit
des Menschen in einem sehr bedenklichen Lichte. Er ist viel-
mehr die Summe und das Produkt der allermannichfaltigsten
Faktoren, von denen man sowohl der Qualität wie der Funktion
nach nur in sehr ungefährem und relativem Sinne sagen kann,
daſs sie zu einer Einheit zusammengehen. Auch ist es physio-
logisch längst anerkannt, daſs jeder Organismus sozusagen ein
Staat aus Staaten ist, daſs seine Teile immer noch eine ge-
wisse gegenseitige Unabhängigkeit besitzen und als eigentliche
organische Einheit nur die Zelle anzusehen ist; und auch
diese letztere ist nur für den Physiologen und nur insofern
eine Einheit, als sie, abgesehen von den aus bloſsem Proto-
plasma bestehenden Wesen, das einfachste Gebilde ist, an das
sich noch Lebenserscheinungen knüpfen, während sie an und
für sich eine höchst komplizierte Zusammensetzung chemischer
Urbestandteile ist. Wenn man den Individualismus wirklich
konsequent verfolgt, so bleiben als reale Wesen nur die
punktuellen Atome übrig und alles Zusammengesetzte fällt
als solches unter den Gesichtspunkt der Realität geringeren
Grades. Und was man sich unter der Einheit der Seele kon-
kret zu denken habe, weiſs kein Mensch. Daſs irgendwo in
uns ein bestimmtes Wesen säſse, das der alleinige und ein-
fache Träger der psychischen Erscheinungen wäre, ist ein
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Glaubensartikel. Und nicht nur auf die einheitliche Substanz

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[11/0025] X 1. nicht die absolute Einheit, die ein nur mit den letzten Reali- täten rechnendes Erkennen fordert. Die Vielheit, die schon der individuelle Mensch in und an sich aufweist, als solche zu durchschauen, ist wie ich glaube eine der wichtigsten Vor- bedingungen für eine rationelle Grundlegung der Gesellschafts- wissenschaft, der ich deshalb hier näher treten möchte. Solange der Mensch, ebenso wie alle organischen Arten, als ein Schöpfungsgedanke Gottes galt, als ein Wesen, das mit all seinen Eigenschaften fertig ausgestattet in die Welt trat, da lag es nahe und war fast erfordert, den einzelnen Menschen als eine geschlossene Einheit anzusehen, als unteil- bare Persönlichkeit, deren „einfache“ Seele in der einheit- lichen Zusammengehörigkeit ihrer körperlichen Organe Aus- druck und Analogie fand. Die entwicklungsgeschichtliche Weltanschauung macht dies unmöglich. Wenn wir die un- ermeſslichen Wandlungen bedenken, die die Organismen durch- machen muſsten, ehe sie von ihren primitivsten Formen sich zum Menschengeschlecht aufgipfeln konnten, die entsprechende Unermeſslichkeit der Einflüsse und Lebensbedingungen, deren Zufälligkeiten und Entgegengesetztheiten jede Generation aus- gesetzt ist, endlich die organische Bildsamkeit und die Ver- erbung, vermöge deren jeder dieser wechselnden Zustände irgend ein Merkmal, eine Modifikation auf jeden Nachkommen abgelagert hat: so erscheint jene absolute, metaphysische Einheit des Menschen in einem sehr bedenklichen Lichte. Er ist viel- mehr die Summe und das Produkt der allermannichfaltigsten Faktoren, von denen man sowohl der Qualität wie der Funktion nach nur in sehr ungefährem und relativem Sinne sagen kann, daſs sie zu einer Einheit zusammengehen. Auch ist es physio- logisch längst anerkannt, daſs jeder Organismus sozusagen ein Staat aus Staaten ist, daſs seine Teile immer noch eine ge- wisse gegenseitige Unabhängigkeit besitzen und als eigentliche organische Einheit nur die Zelle anzusehen ist; und auch diese letztere ist nur für den Physiologen und nur insofern eine Einheit, als sie, abgesehen von den aus bloſsem Proto- plasma bestehenden Wesen, das einfachste Gebilde ist, an das sich noch Lebenserscheinungen knüpfen, während sie an und für sich eine höchst komplizierte Zusammensetzung chemischer Urbestandteile ist. Wenn man den Individualismus wirklich konsequent verfolgt, so bleiben als reale Wesen nur die punktuellen Atome übrig und alles Zusammengesetzte fällt als solches unter den Gesichtspunkt der Realität geringeren Grades. Und was man sich unter der Einheit der Seele kon- kret zu denken habe, weiſs kein Mensch. Daſs irgendwo in uns ein bestimmtes Wesen säſse, das der alleinige und ein- fache Träger der psychischen Erscheinungen wäre, ist ein völlig unbewiesener und erkenntnistheoretisch unhaltbarer Glaubensartikel. Und nicht nur auf die einheitliche Substanz

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Zitationshilfe: Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890, S. 11. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_differenzierung_1890/25>, abgerufen am 18.04.2024.