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Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890.

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ferner: wo wir die Folge eines Komplexes einfacher Erschei-
nungen festzustellen suchen, ist es nur durch die schwierig-
sten und auf höheren Gebieten oft ganz unanwendbaren Me-
thoden möglich, diejenige Erscheinung festzustellen, die die
allein oder wesentlich wirksame ist; wo überhaupt Mannich-
faltiges mit Mannichfaltigem in eine einheitlich erscheinende
Beziehung tritt, da ist überall dem Irrtum über die eigent-
lichen Träger der Ursache wie der Wirkung Thür und Thor
geöffnet.

Dieser Gesichtspunkt führt auf einen Einwand, den man
vom erkenntnistheoretischen Standpunkt gegen die Gesell-
schaftswissenschaft überhaupt erheben kann. Der Begriff der
Gesellschaft hat offenbar nur dann einen Sinn, wenn er in
irgend einem Gegensatz gegen die blosse Summe der Einzelnen
steht. Denn fiele er mit letzterer zusammen, so scheint er
nicht anders das Objekt einer Wissenschaft sein zu können,
als etwa "der Sternhimmel" als Gegenstand der Astronomie
zu bezeichnen ist; thatsächlich ist dies doch nur ein Kollektiv-
ausdruck, und was die Astronomie feststellt, sind nur die Be-
wegungen der einzelnen Sterne und die Gesetze, die diese
regeln. Ist die Gesellschaft nur eine in unserer Betrachtungs-
weise vor sich gehende Zusammenfassung von Einzelnen, die
die eigentlichen Realitäten sind, so bilden diese und ihr Ver-
halten auch das eigentliche Objekt der Wissenschaft, und der
Begriff der Gesellschaft verflüchtigt sich. Und wirklich
scheint es sich so zu verhalten. Was greifbar existiert, sind
doch nur die einzelnen Menschen und ihre Zustände und Be-
wegungen: deshalb könne es sich nur darum handeln diese
zu verstehen, während das rein durch ideelle Synthese ent-
standene, nirgend zu greifende Gesellschaftswesen keinen Ge-
genstand eines auf Erforschung der Wirklichkeit gerichteten
Denkens bilden dürfe.

Der Grundgedanke dieses Zweifels an dem Sinn der So-
ciologie ist durchaus richtig: wir müssen in der That so scharf
wie möglich zwischen den realen Wesen, die wir als objek-
tive Einheiten ansehen dürfen und den Zusammenfassungen
derselben zu Komplexen, die als solche nur in unserem syn-
thetischen Geiste existieren, unterscheiden. Und auf dem
Rückgang auf jene beruht freilich alles realistische Wissen;
ja, die Erkenntnis der Allgemeinbegriffe, die ein noch immer
spukender Platonismus als Realitäten in unsere Weltanschauung
einschwärzt, als bloss subjectiver Gebilde und ihre Auflösung
in die Summe der allein realen Einzelerscheinungen ist eines
der Hauptziele der modernen Geistesbildung. Allein wenn
der Individualismus diese Kritik gegen den Gesellschafts-
begriff richtet, so braucht man die Reflexion nur noch eine
Stufe zu vertiefen, um zu sehen, dass er damit zugleich sein
eigenes Urteil spricht. Denn auch der einzelne Mensch ist

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ferner: wo wir die Folge eines Komplexes einfacher Erschei-
nungen festzustellen suchen, ist es nur durch die schwierig-
sten und auf höheren Gebieten oft ganz unanwendbaren Me-
thoden möglich, diejenige Erscheinung festzustellen, die die
allein oder wesentlich wirksame ist; wo überhaupt Mannich-
faltiges mit Mannichfaltigem in eine einheitlich erscheinende
Beziehung tritt, da ist überall dem Irrtum über die eigent-
lichen Träger der Ursache wie der Wirkung Thür und Thor
geöffnet.

Dieser Gesichtspunkt führt auf einen Einwand, den man
vom erkenntnistheoretischen Standpunkt gegen die Gesell-
schaftswissenschaft überhaupt erheben kann. Der Begriff der
Gesellschaft hat offenbar nur dann einen Sinn, wenn er in
irgend einem Gegensatz gegen die bloſse Summe der Einzelnen
steht. Denn fiele er mit letzterer zusammen, so scheint er
nicht anders das Objekt einer Wissenschaft sein zu können,
als etwa „der Sternhimmel“ als Gegenstand der Astronomie
zu bezeichnen ist; thatsächlich ist dies doch nur ein Kollektiv-
ausdruck, und was die Astronomie feststellt, sind nur die Be-
wegungen der einzelnen Sterne und die Gesetze, die diese
regeln. Ist die Gesellschaft nur eine in unserer Betrachtungs-
weise vor sich gehende Zusammenfassung von Einzelnen, die
die eigentlichen Realitäten sind, so bilden diese und ihr Ver-
halten auch das eigentliche Objekt der Wissenschaft, und der
Begriff der Gesellschaft verflüchtigt sich. Und wirklich
scheint es sich so zu verhalten. Was greifbar existiert, sind
doch nur die einzelnen Menschen und ihre Zustände und Be-
wegungen: deshalb könne es sich nur darum handeln diese
zu verstehen, während das rein durch ideelle Synthese ent-
standene, nirgend zu greifende Gesellschaftswesen keinen Ge-
genstand eines auf Erforschung der Wirklichkeit gerichteten
Denkens bilden dürfe.

Der Grundgedanke dieses Zweifels an dem Sinn der So-
ciologie ist durchaus richtig: wir müssen in der That so scharf
wie möglich zwischen den realen Wesen, die wir als objek-
tive Einheiten ansehen dürfen und den Zusammenfassungen
derselben zu Komplexen, die als solche nur in unserem syn-
thetischen Geiste existieren, unterscheiden. Und auf dem
Rückgang auf jene beruht freilich alles realistische Wissen;
ja, die Erkenntnis der Allgemeinbegriffe, die ein noch immer
spukender Platonismus als Realitäten in unsere Weltanschauung
einschwärzt, als bloſs subjectiver Gebilde und ihre Auflösung
in die Summe der allein realen Einzelerscheinungen ist eines
der Hauptziele der modernen Geistesbildung. Allein wenn
der Individualismus diese Kritik gegen den Gesellschafts-
begriff richtet, so braucht man die Reflexion nur noch eine
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[10/0024] X 1. ferner: wo wir die Folge eines Komplexes einfacher Erschei- nungen festzustellen suchen, ist es nur durch die schwierig- sten und auf höheren Gebieten oft ganz unanwendbaren Me- thoden möglich, diejenige Erscheinung festzustellen, die die allein oder wesentlich wirksame ist; wo überhaupt Mannich- faltiges mit Mannichfaltigem in eine einheitlich erscheinende Beziehung tritt, da ist überall dem Irrtum über die eigent- lichen Träger der Ursache wie der Wirkung Thür und Thor geöffnet. Dieser Gesichtspunkt führt auf einen Einwand, den man vom erkenntnistheoretischen Standpunkt gegen die Gesell- schaftswissenschaft überhaupt erheben kann. Der Begriff der Gesellschaft hat offenbar nur dann einen Sinn, wenn er in irgend einem Gegensatz gegen die bloſse Summe der Einzelnen steht. Denn fiele er mit letzterer zusammen, so scheint er nicht anders das Objekt einer Wissenschaft sein zu können, als etwa „der Sternhimmel“ als Gegenstand der Astronomie zu bezeichnen ist; thatsächlich ist dies doch nur ein Kollektiv- ausdruck, und was die Astronomie feststellt, sind nur die Be- wegungen der einzelnen Sterne und die Gesetze, die diese regeln. Ist die Gesellschaft nur eine in unserer Betrachtungs- weise vor sich gehende Zusammenfassung von Einzelnen, die die eigentlichen Realitäten sind, so bilden diese und ihr Ver- halten auch das eigentliche Objekt der Wissenschaft, und der Begriff der Gesellschaft verflüchtigt sich. Und wirklich scheint es sich so zu verhalten. Was greifbar existiert, sind doch nur die einzelnen Menschen und ihre Zustände und Be- wegungen: deshalb könne es sich nur darum handeln diese zu verstehen, während das rein durch ideelle Synthese ent- standene, nirgend zu greifende Gesellschaftswesen keinen Ge- genstand eines auf Erforschung der Wirklichkeit gerichteten Denkens bilden dürfe. Der Grundgedanke dieses Zweifels an dem Sinn der So- ciologie ist durchaus richtig: wir müssen in der That so scharf wie möglich zwischen den realen Wesen, die wir als objek- tive Einheiten ansehen dürfen und den Zusammenfassungen derselben zu Komplexen, die als solche nur in unserem syn- thetischen Geiste existieren, unterscheiden. Und auf dem Rückgang auf jene beruht freilich alles realistische Wissen; ja, die Erkenntnis der Allgemeinbegriffe, die ein noch immer spukender Platonismus als Realitäten in unsere Weltanschauung einschwärzt, als bloſs subjectiver Gebilde und ihre Auflösung in die Summe der allein realen Einzelerscheinungen ist eines der Hauptziele der modernen Geistesbildung. Allein wenn der Individualismus diese Kritik gegen den Gesellschafts- begriff richtet, so braucht man die Reflexion nur noch eine Stufe zu vertiefen, um zu sehen, daſs er damit zugleich sein eigenes Urteil spricht. Denn auch der einzelne Mensch ist

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Zitationshilfe: Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890, S. 10. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_differenzierung_1890/24>, abgerufen am 29.03.2024.