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Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890.

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ein so weites Gebiet umfasst z. B. der Begriff des Glücks
oder der Religiosität, dass die von einander abstehendsten
Punkte desselben trotz des Enthaltenseins unter dem gleichen
Begriff durchaus als Ursachen heterogener Folgen verständlich
sind. Ganz Unrecht hat mithin keine jener allgemeinen psycho-
logischen Sentenzen; sie irren meistens nur darin, dass sie
die specifische Differenz vernachlässigen, die, die in Rede
stehenden Allgemeinbegriffe näher bestimmend, sie bald
in diese, bald in jene ganz entgegengesetzte Verbindung
bringt. Es ist ganz richtig, dass Trennung die Liebe steigert;
aber nicht Trennung überhaupt und Liebe überhaupt, sondern
nur eine bestimmte Art beider steht in diesem Verhältnis;
und ebenso ist es richtig, dass Trennung die Liebe schwächt;
aber nicht jede Trennung jede Liebe, sondern eine gewisse
Nüance der ersteren schwächt eine gewisse Nüance der letz-
teren. Hier ist auch insbesondere der Einfluss der Quantität
des seelischen Affekts im Auge zu behalten. Wir können
freilich gewisse Abänderungen einer Empfindung nur unter
die Denk- und Sprachkategorie der Quantität bringen und
bezeichnen sie deshalb noch immer mit dem gleichen Begriff;
thatsächlich aber sind es auch innerliche, qualitative Verän-
derungen, die auf diese Weise mit ihr vorgehen. Wie ein
grosses Kapital zwar nur quantitativ anders ist, als ein kleines,
dennoch aber qualitativ ganz anders geartete wirtschaftliche
Wirkungen ausübt, so und noch viel mehr ist der Unterschied
zwischen einer grossen und einer geringen Empfindung in
Liebe und Hass, Stolz und Demut, Lust und Leid ein nur
scheinbar quantitativer, thatsächlich aber ein so genereller,
dass, wo über die psychologischen Beziehungen einer Empfin-
dung als solcher und im allgemeinen ausgesagt werden soll,
je nach dem Quantum derselben, über das man gerade Er-
fahrungen gesammelt hat, die heterogensten Verbindungen
derselben beweisbar sind. Und nun das, was für die Ana-
logie, die ich im Auge habe, das Wichtigste ist. Wo wir
von der Verursachung irgend eines psychischen Ereignisses
durch ein anderes sprechen, da ist das letztere in der Isolie-
rung und Selbständigkeit, die sein sprachlicher Ausdruck an-
zeigt, doch nie die an sich zureichende Veranlassung des
ersteren; vielmehr gehört der ganze übrige bewusste und un-
bewusste Seeleninhalt dazu, um, im Verein mit der neu ein-
getretenen Bewegung, den weiteren Vorgang zuwege zu bringen.
Insofern man psychische Ereignisse wie Liebe, Hass, Glück,
oder Qualitäten wie Klugheit, Reizbarkeit, Demut und ähn-
liche als Ursachen bezeichnet, fasst man in ihnen einen ganzen
Komplex mannichfaltiger Kräfte zusammen, die nur von jener
besonders hervorgehobenen die Färbung oder die Richtung
empfangen. Das Bestimmende hierbei ist nicht nur der all-
gemeine erkenntnistheoretische Grund, dass die Wirkung jeder

X 1.
ein so weites Gebiet umfaſst z. B. der Begriff des Glücks
oder der Religiosität, daſs die von einander abstehendsten
Punkte desselben trotz des Enthaltenseins unter dem gleichen
Begriff durchaus als Ursachen heterogener Folgen verständlich
sind. Ganz Unrecht hat mithin keine jener allgemeinen psycho-
logischen Sentenzen; sie irren meistens nur darin, daſs sie
die specifische Differenz vernachlässigen, die, die in Rede
stehenden Allgemeinbegriffe näher bestimmend, sie bald
in diese, bald in jene ganz entgegengesetzte Verbindung
bringt. Es ist ganz richtig, daſs Trennung die Liebe steigert;
aber nicht Trennung überhaupt und Liebe überhaupt, sondern
nur eine bestimmte Art beider steht in diesem Verhältnis;
und ebenso ist es richtig, daſs Trennung die Liebe schwächt;
aber nicht jede Trennung jede Liebe, sondern eine gewisse
Nüance der ersteren schwächt eine gewisse Nüance der letz-
teren. Hier ist auch insbesondere der Einfluſs der Quantität
des seelischen Affekts im Auge zu behalten. Wir können
freilich gewisse Abänderungen einer Empfindung nur unter
die Denk- und Sprachkategorie der Quantität bringen und
bezeichnen sie deshalb noch immer mit dem gleichen Begriff;
thatsächlich aber sind es auch innerliche, qualitative Verän-
derungen, die auf diese Weise mit ihr vorgehen. Wie ein
groſses Kapital zwar nur quantitativ anders ist, als ein kleines,
dennoch aber qualitativ ganz anders geartete wirtschaftliche
Wirkungen ausübt, so und noch viel mehr ist der Unterschied
zwischen einer groſsen und einer geringen Empfindung in
Liebe und Haſs, Stolz und Demut, Lust und Leid ein nur
scheinbar quantitativer, thatsächlich aber ein so genereller,
daſs, wo über die psychologischen Beziehungen einer Empfin-
dung als solcher und im allgemeinen ausgesagt werden soll,
je nach dem Quantum derselben, über das man gerade Er-
fahrungen gesammelt hat, die heterogensten Verbindungen
derselben beweisbar sind. Und nun das, was für die Ana-
logie, die ich im Auge habe, das Wichtigste ist. Wo wir
von der Verursachung irgend eines psychischen Ereignisses
durch ein anderes sprechen, da ist das letztere in der Isolie-
rung und Selbständigkeit, die sein sprachlicher Ausdruck an-
zeigt, doch nie die an sich zureichende Veranlassung des
ersteren; vielmehr gehört der ganze übrige bewuſste und un-
bewuſste Seeleninhalt dazu, um, im Verein mit der neu ein-
getretenen Bewegung, den weiteren Vorgang zuwege zu bringen.
Insofern man psychische Ereignisse wie Liebe, Haſs, Glück,
oder Qualitäten wie Klugheit, Reizbarkeit, Demut und ähn-
liche als Ursachen bezeichnet, faſst man in ihnen einen ganzen
Komplex mannichfaltiger Kräfte zusammen, die nur von jener
besonders hervorgehobenen die Färbung oder die Richtung
empfangen. Das Bestimmende hierbei ist nicht nur der all-
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[6/0020] X 1. ein so weites Gebiet umfaſst z. B. der Begriff des Glücks oder der Religiosität, daſs die von einander abstehendsten Punkte desselben trotz des Enthaltenseins unter dem gleichen Begriff durchaus als Ursachen heterogener Folgen verständlich sind. Ganz Unrecht hat mithin keine jener allgemeinen psycho- logischen Sentenzen; sie irren meistens nur darin, daſs sie die specifische Differenz vernachlässigen, die, die in Rede stehenden Allgemeinbegriffe näher bestimmend, sie bald in diese, bald in jene ganz entgegengesetzte Verbindung bringt. Es ist ganz richtig, daſs Trennung die Liebe steigert; aber nicht Trennung überhaupt und Liebe überhaupt, sondern nur eine bestimmte Art beider steht in diesem Verhältnis; und ebenso ist es richtig, daſs Trennung die Liebe schwächt; aber nicht jede Trennung jede Liebe, sondern eine gewisse Nüance der ersteren schwächt eine gewisse Nüance der letz- teren. Hier ist auch insbesondere der Einfluſs der Quantität des seelischen Affekts im Auge zu behalten. Wir können freilich gewisse Abänderungen einer Empfindung nur unter die Denk- und Sprachkategorie der Quantität bringen und bezeichnen sie deshalb noch immer mit dem gleichen Begriff; thatsächlich aber sind es auch innerliche, qualitative Verän- derungen, die auf diese Weise mit ihr vorgehen. Wie ein groſses Kapital zwar nur quantitativ anders ist, als ein kleines, dennoch aber qualitativ ganz anders geartete wirtschaftliche Wirkungen ausübt, so und noch viel mehr ist der Unterschied zwischen einer groſsen und einer geringen Empfindung in Liebe und Haſs, Stolz und Demut, Lust und Leid ein nur scheinbar quantitativer, thatsächlich aber ein so genereller, daſs, wo über die psychologischen Beziehungen einer Empfin- dung als solcher und im allgemeinen ausgesagt werden soll, je nach dem Quantum derselben, über das man gerade Er- fahrungen gesammelt hat, die heterogensten Verbindungen derselben beweisbar sind. Und nun das, was für die Ana- logie, die ich im Auge habe, das Wichtigste ist. Wo wir von der Verursachung irgend eines psychischen Ereignisses durch ein anderes sprechen, da ist das letztere in der Isolie- rung und Selbständigkeit, die sein sprachlicher Ausdruck an- zeigt, doch nie die an sich zureichende Veranlassung des ersteren; vielmehr gehört der ganze übrige bewuſste und un- bewuſste Seeleninhalt dazu, um, im Verein mit der neu ein- getretenen Bewegung, den weiteren Vorgang zuwege zu bringen. Insofern man psychische Ereignisse wie Liebe, Haſs, Glück, oder Qualitäten wie Klugheit, Reizbarkeit, Demut und ähn- liche als Ursachen bezeichnet, faſst man in ihnen einen ganzen Komplex mannichfaltiger Kräfte zusammen, die nur von jener besonders hervorgehobenen die Färbung oder die Richtung empfangen. Das Bestimmende hierbei ist nicht nur der all- gemeine erkenntnistheoretische Grund, daſs die Wirkung jeder

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Zitationshilfe: Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890, S. 6. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_differenzierung_1890/20>, abgerufen am 28.03.2024.