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Seume, Johann Gottfried: Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802. Braunschweig u. a., 1803.

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Besinnung, dass ich errieth, ich schlief in einem neu
geweissten Zimmer, das man auf mein Verlangen ge¬
waltig geheitzt hatte. Als ich mich aufzurichten ver¬
suchte, um das Fenster zu öffnen, fiel ich kraftlos und
dumpf auf den Pfühl zurück und verlor das Bewusst¬
seyn. Als es helle ward erwachte ich wieder, sam¬
melte so viel Kraft das Fenster zu öffnen, mich anzu¬
ziehen, in der Eile das Zimmer zu verlassen, hinun¬
ter zu taumeln und unten etwas Wein und Brot zu
bestellen. Hier kam der zweyte Paroxysmus; ich sank
am Tische hin in einen namenlosen Zustand, wie in
einen lichtleeren Abgrund, wo Finsterniss hinter mir
zuschloss. So viel erinnere ich mich noch; ich dach¬
te, das ist der Tod, und war ruhig; sie werden mich
schon gehörig begraben. Kurze Zeit darauf erwachte
ich wieder unter dem entsetzlichsten Schweisse, der
mich aber mit jedem Augenblicke leichter ins Leben
zurück brachte. Der ganze Körper war nass, die Haare
waren wie getaucht, und auf den Händen standen
grosse Tropfen bis vorn an die Nägel der Finger. Nie¬
mand war in dem Zimmer; der Schweiss brachte mir
nach der Schwere des Todes ein Gefühl unaussprech¬
licher Behaglichkeit. Etwas Schwindel kam zurück;
nun suchte ich mich zu ermannen und nahm etwas
Wein und Brot. Die Luft, dachte ich, ist die beste
Arzney, und auf alle Fälle stirbt man besser in dem
freyen Elemente, als in der engen Kajüte. So nahm
ich meinen Tornister mit grosser Anstrengung auf die
Schulter und ging oder wankte vielmehr nur; aber
mit jedem Schritte ward ich leichter und stärker und
in einer halben Stunde fühlte ich nichts mehr, ob mir

Besinnung, daſs ich errieth, ich schlief in einem neu
geweiſsten Zimmer, das man auf mein Verlangen ge¬
waltig geheitzt hatte. Als ich mich aufzurichten ver¬
suchte, um das Fenster zu öffnen, fiel ich kraftlos und
dumpf auf den Pfühl zurück und verlor das Bewuſst¬
seyn. Als es helle ward erwachte ich wieder, sam¬
melte so viel Kraft das Fenster zu öffnen, mich anzu¬
ziehen, in der Eile das Zimmer zu verlassen, hinun¬
ter zu taumeln und unten etwas Wein und Brot zu
bestellen. Hier kam der zweyte Paroxysmus; ich sank
am Tische hin in einen namenlosen Zustand, wie in
einen lichtleeren Abgrund, wo Finsterniſs hinter mir
zuschloſs. So viel erinnere ich mich noch; ich dach¬
te, das ist der Tod, und war ruhig; sie werden mich
schon gehörig begraben. Kurze Zeit darauf erwachte
ich wieder unter dem entsetzlichsten Schweiſse, der
mich aber mit jedem Augenblicke leichter ins Leben
zurück brachte. Der ganze Körper war naſs, die Haare
waren wie getaucht, und auf den Händen standen
groſse Tropfen bis vorn an die Nägel der Finger. Nie¬
mand war in dem Zimmer; der Schweiſs brachte mir
nach der Schwere des Todes ein Gefühl unaussprech¬
licher Behaglichkeit. Etwas Schwindel kam zurück;
nun suchte ich mich zu ermannen und nahm etwas
Wein und Brot. Die Luft, dachte ich, ist die beste
Arzney, und auf alle Fälle stirbt man besser in dem
freyen Elemente, als in der engen Kajüte. So nahm
ich meinen Tornister mit groſser Anstrengung auf die
Schulter und ging oder wankte vielmehr nur; aber
mit jedem Schritte ward ich leichter und stärker und
in einer halben Stunde fühlte ich nichts mehr, ob mir

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[62/0088] Besinnung, daſs ich errieth, ich schlief in einem neu geweiſsten Zimmer, das man auf mein Verlangen ge¬ waltig geheitzt hatte. Als ich mich aufzurichten ver¬ suchte, um das Fenster zu öffnen, fiel ich kraftlos und dumpf auf den Pfühl zurück und verlor das Bewuſst¬ seyn. Als es helle ward erwachte ich wieder, sam¬ melte so viel Kraft das Fenster zu öffnen, mich anzu¬ ziehen, in der Eile das Zimmer zu verlassen, hinun¬ ter zu taumeln und unten etwas Wein und Brot zu bestellen. Hier kam der zweyte Paroxysmus; ich sank am Tische hin in einen namenlosen Zustand, wie in einen lichtleeren Abgrund, wo Finsterniſs hinter mir zuschloſs. So viel erinnere ich mich noch; ich dach¬ te, das ist der Tod, und war ruhig; sie werden mich schon gehörig begraben. Kurze Zeit darauf erwachte ich wieder unter dem entsetzlichsten Schweiſse, der mich aber mit jedem Augenblicke leichter ins Leben zurück brachte. Der ganze Körper war naſs, die Haare waren wie getaucht, und auf den Händen standen groſse Tropfen bis vorn an die Nägel der Finger. Nie¬ mand war in dem Zimmer; der Schweiſs brachte mir nach der Schwere des Todes ein Gefühl unaussprech¬ licher Behaglichkeit. Etwas Schwindel kam zurück; nun suchte ich mich zu ermannen und nahm etwas Wein und Brot. Die Luft, dachte ich, ist die beste Arzney, und auf alle Fälle stirbt man besser in dem freyen Elemente, als in der engen Kajüte. So nahm ich meinen Tornister mit groſser Anstrengung auf die Schulter und ging oder wankte vielmehr nur; aber mit jedem Schritte ward ich leichter und stärker und in einer halben Stunde fühlte ich nichts mehr, ob mir

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Zitationshilfe: Seume, Johann Gottfried: Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802. Braunschweig u. a., 1803, S. 62. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seume_syrakus_1803/88>, abgerufen am 19.04.2024.