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Seume, Johann Gottfried: Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802. Braunschweig u. a., 1803.

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Nebeltage. Es war ein Phantom. Wenn Du Gerech¬
tigkeit in Gesetzen suchst, irrest Du sehr; die Gesetze
sollen erst aus der Gerechtigkeit hervor gehen. Du
kannst hier, wie in manchem unserer Institute, schlie¬
ssen: je mehr Gesetze, desto weniger Gerechtigkeit;
je mehr Theologie, desto weniger Religion; je längere
Predigten, desto weniger vernünftige Moral. Mit unserer
bürgerlichen Gerechtigkeit geht es noch so ziemlich;
denn die Gewalthaber begreifen wohl, dass ohne diese
durchaus nichts bestehen kann, dass sie sich ohne die¬
selbe selbst auflösen: aber desto schlimmer sieht es
mit der öffentlichen aus; und mich däucht, wir wer¬
den wohl noch einige platonische Jahre warten müssen,
ehe es sich damit in der That bessert, so oft es sich
auch ändern mag. Dazu ist die Erziehung des Men¬
schengeschlechts noch zu wenig gemacht, und diejeni¬
gen, die sie machen sollen, haben zu viel Interesse sie
nicht zu machen, oder sie verkehrt zu machen. So
bald Gerechtigkeit seyn wird, wird Friede seyn und
Glück: sie ist die einzige Tugend, die uns fehlt.
Wir haben Billigkeit, Grossmuth, Menschenliebe,
Gnade, Erbarmung genug im Einzelnen, bloss weil
wir im Allgemeinen keine Gerechtigkeit haben. Die
Gnade verderbt alles, im Staate und in der Kirche.
Wir wollen keine Gnade, wir wollen Gerechtigkeit;
die Gnade gehört bloss für Verbrecher; und meistens
sind die Könige ungerecht, wo sie gnädig sind. Wer
den Begriff der Gnade zuerst ins bürgerliche Leben
und an die Thronen der Fürsten getragen hat, soll
verdammt seyn von blosser Gnade zu leben: vermuth¬
lich war er ein Mensch, der mit Gerechtigkeit nichts

Nebeltage. Es war ein Phantom. Wenn Du Gerech¬
tigkeit in Gesetzen suchst, irrest Du sehr; die Gesetze
sollen erst aus der Gerechtigkeit hervor gehen. Du
kannst hier, wie in manchem unserer Institute, schlie¬
ſsen: je mehr Gesetze, desto weniger Gerechtigkeit;
je mehr Theologie, desto weniger Religion; je längere
Predigten, desto weniger vernünftige Moral. Mit unserer
bürgerlichen Gerechtigkeit geht es noch so ziemlich;
denn die Gewalthaber begreifen wohl, daſs ohne diese
durchaus nichts bestehen kann, daſs sie sich ohne die¬
selbe selbst auflösen: aber desto schlimmer sieht es
mit der öffentlichen aus; und mich däucht, wir wer¬
den wohl noch einige platonische Jahre warten müssen,
ehe es sich damit in der That bessert, so oft es sich
auch ändern mag. Dazu ist die Erziehung des Men¬
schengeschlechts noch zu wenig gemacht, und diejeni¬
gen, die sie machen sollen, haben zu viel Interesse sie
nicht zu machen, oder sie verkehrt zu machen. So
bald Gerechtigkeit seyn wird, wird Friede seyn und
Glück: sie ist die einzige Tugend, die uns fehlt.
Wir haben Billigkeit, Groſsmuth, Menschenliebe,
Gnade, Erbarmung genug im Einzelnen, bloſs weil
wir im Allgemeinen keine Gerechtigkeit haben. Die
Gnade verderbt alles, im Staate und in der Kirche.
Wir wollen keine Gnade, wir wollen Gerechtigkeit;
die Gnade gehört bloſs für Verbrecher; und meistens
sind die Könige ungerecht, wo sie gnädig sind. Wer
den Begriff der Gnade zuerst ins bürgerliche Leben
und an die Thronen der Fürsten getragen hat, soll
verdammt seyn von bloſser Gnade zu leben: vermuth¬
lich war er ein Mensch, der mit Gerechtigkeit nichts

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[54/0080] Nebeltage. Es war ein Phantom. Wenn Du Gerech¬ tigkeit in Gesetzen suchst, irrest Du sehr; die Gesetze sollen erst aus der Gerechtigkeit hervor gehen. Du kannst hier, wie in manchem unserer Institute, schlie¬ ſsen: je mehr Gesetze, desto weniger Gerechtigkeit; je mehr Theologie, desto weniger Religion; je längere Predigten, desto weniger vernünftige Moral. Mit unserer bürgerlichen Gerechtigkeit geht es noch so ziemlich; denn die Gewalthaber begreifen wohl, daſs ohne diese durchaus nichts bestehen kann, daſs sie sich ohne die¬ selbe selbst auflösen: aber desto schlimmer sieht es mit der öffentlichen aus; und mich däucht, wir wer¬ den wohl noch einige platonische Jahre warten müssen, ehe es sich damit in der That bessert, so oft es sich auch ändern mag. Dazu ist die Erziehung des Men¬ schengeschlechts noch zu wenig gemacht, und diejeni¬ gen, die sie machen sollen, haben zu viel Interesse sie nicht zu machen, oder sie verkehrt zu machen. So bald Gerechtigkeit seyn wird, wird Friede seyn und Glück: sie ist die einzige Tugend, die uns fehlt. Wir haben Billigkeit, Groſsmuth, Menschenliebe, Gnade, Erbarmung genug im Einzelnen, bloſs weil wir im Allgemeinen keine Gerechtigkeit haben. Die Gnade verderbt alles, im Staate und in der Kirche. Wir wollen keine Gnade, wir wollen Gerechtigkeit; die Gnade gehört bloſs für Verbrecher; und meistens sind die Könige ungerecht, wo sie gnädig sind. Wer den Begriff der Gnade zuerst ins bürgerliche Leben und an die Thronen der Fürsten getragen hat, soll verdammt seyn von bloſser Gnade zu leben: vermuth¬ lich war er ein Mensch, der mit Gerechtigkeit nichts

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Zitationshilfe: Seume, Johann Gottfried: Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802. Braunschweig u. a., 1803, S. 54. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seume_syrakus_1803/80>, abgerufen am 19.04.2024.