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Seume, Johann Gottfried: Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802. Braunschweig u. a., 1803.

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Station Extrapost und liess mich in die Stadt Lion
bringen. Das Wetter ward mir zu heiss und ich wollte
den andern Morgen mit der Diligence nach Mainz
fahren: aber des alten wackern Oberlins Höflichkeit
und einige neue angenehme Bekanntschaften hielten
mich noch einige Tage länger bis zur nächsten Ab¬
fahrt. Oberlin traf ich auf der Bibliothek und er
hatte die Güte mir ihre Schätze selbst zu zeigen. Un¬
ter den bronzenen Stücken ist mir ein kleiner weib¬
licher Satyr aufgefallen, der nicht übel gearbeitet war.
Die Seltenheit solcher Exemplare erhöht vielleicht den
Werth. Der alte verstorbene Hermann hatte auf der
Bibliothek die Stücke der verstümmelten Statüen vom
Münster und sarkastischen Inschriften auf die vandali¬
schen Zerstörer aufbewahrt, wo Rühl und einige an¬
dere sich nicht über ihre Enkomien freuen würden.
Das schöne Wetter lockte mich mit einer Gesellschaft
über den Rhein herüber, und ich betrat nach meiner
Pilgerschaft bey Kehl zuerst wieder den vaterländischen
Boden, und sah die Verschüttungen des Forts und die
neuen Einrichtungen der Regierung von Baden. Es
ist schon sehr viel wieder aufgebaut. Dass ich mich
etwas auf dem Münster umsah, brauche ich Dir wohl
nicht zu sagen. Man hat eine herrliche Aussicht auf
die ganze grosse schöne reiche Gegend und den ma¬
jestätischen Fluss hinauf und hinab. Es wäre vielleicht
schwer zu bestimmen, ob der Dom in Mailand oder
diese Kathedrale den Vorzug verdient. Diese beyden
Gebäude sind wohl auf alle Fälle die grössten Monu¬
mente gothischer Baukunst. Als ich in der Thomas¬
kirche das schlechtgedachte und schön gearbeitete Mo¬

Station Extrapost und lieſs mich in die Stadt Lion
bringen. Das Wetter ward mir zu heiſs und ich wollte
den andern Morgen mit der Diligence nach Mainz
fahren: aber des alten wackern Oberlins Höflichkeit
und einige neue angenehme Bekanntschaften hielten
mich noch einige Tage länger bis zur nächsten Ab¬
fahrt. Oberlin traf ich auf der Bibliothek und er
hatte die Güte mir ihre Schätze selbst zu zeigen. Un¬
ter den bronzenen Stücken ist mir ein kleiner weib¬
licher Satyr aufgefallen, der nicht übel gearbeitet war.
Die Seltenheit solcher Exemplare erhöht vielleicht den
Werth. Der alte verstorbene Hermann hatte auf der
Bibliothek die Stücke der verstümmelten Statüen vom
Münster und sarkastischen Inschriften auf die vandali¬
schen Zerstörer aufbewahrt, wo Rühl und einige an¬
dere sich nicht über ihre Enkomien freuen würden.
Das schöne Wetter lockte mich mit einer Gesellschaft
über den Rhein herüber, und ich betrat nach meiner
Pilgerschaft bey Kehl zuerst wieder den vaterländischen
Boden, und sah die Verschüttungen des Forts und die
neuen Einrichtungen der Regierung von Baden. Es
ist schon sehr viel wieder aufgebaut. Daſs ich mich
etwas auf dem Münster umsah, brauche ich Dir wohl
nicht zu sagen. Man hat eine herrliche Aussicht auf
die ganze groſse schöne reiche Gegend und den ma¬
jestätischen Fluſs hinauf und hinab. Es wäre vielleicht
schwer zu bestimmen, ob der Dom in Mailand oder
diese Kathedrale den Vorzug verdient. Diese beyden
Gebäude sind wohl auf alle Fälle die gröſsten Monu¬
mente gothischer Baukunst. Als ich in der Thomas¬
kirche das schlechtgedachte und schön gearbeitete Mo¬

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[476 /0504] Station Extrapost und lieſs mich in die Stadt Lion bringen. Das Wetter ward mir zu heiſs und ich wollte den andern Morgen mit der Diligence nach Mainz fahren: aber des alten wackern Oberlins Höflichkeit und einige neue angenehme Bekanntschaften hielten mich noch einige Tage länger bis zur nächsten Ab¬ fahrt. Oberlin traf ich auf der Bibliothek und er hatte die Güte mir ihre Schätze selbst zu zeigen. Un¬ ter den bronzenen Stücken ist mir ein kleiner weib¬ licher Satyr aufgefallen, der nicht übel gearbeitet war. Die Seltenheit solcher Exemplare erhöht vielleicht den Werth. Der alte verstorbene Hermann hatte auf der Bibliothek die Stücke der verstümmelten Statüen vom Münster und sarkastischen Inschriften auf die vandali¬ schen Zerstörer aufbewahrt, wo Rühl und einige an¬ dere sich nicht über ihre Enkomien freuen würden. Das schöne Wetter lockte mich mit einer Gesellschaft über den Rhein herüber, und ich betrat nach meiner Pilgerschaft bey Kehl zuerst wieder den vaterländischen Boden, und sah die Verschüttungen des Forts und die neuen Einrichtungen der Regierung von Baden. Es ist schon sehr viel wieder aufgebaut. Daſs ich mich etwas auf dem Münster umsah, brauche ich Dir wohl nicht zu sagen. Man hat eine herrliche Aussicht auf die ganze groſse schöne reiche Gegend und den ma¬ jestätischen Fluſs hinauf und hinab. Es wäre vielleicht schwer zu bestimmen, ob der Dom in Mailand oder diese Kathedrale den Vorzug verdient. Diese beyden Gebäude sind wohl auf alle Fälle die gröſsten Monu¬ mente gothischer Baukunst. Als ich in der Thomas¬ kirche das schlechtgedachte und schön gearbeitete Mo¬

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Zitationshilfe: Seume, Johann Gottfried: Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802. Braunschweig u. a., 1803, S. 476 . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seume_syrakus_1803/504>, abgerufen am 29.03.2024.