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Seume, Johann Gottfried: Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802. Braunschweig u. a., 1803.

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chen, und es wehte ein lauer Wind, der nur in der
Gegend des Sturzes etwas kühl ward. Die Sonne stand
schon etwas tief und bildete aus der furchtbaren
Schlucht der Nera hoch in der Atmosphäre einen gan¬
zen hellen herrlich glühenden und einen grössern dun¬
keln Bogen im Staube des Falles. Ich sass gegenüber
auf dem Felsen und vergass einige Minuten alles was
die Welt sonst grosses und schönes haben mag. Etwas
grösseres und schöneres von Menschenhänden hat sie
schwerlich aufzuweisen. Folgendes war halb Gedanke,
halb Gefühl, als ich wieder bey mir selbst war.

Hier hat vielleicht der grosse Mann gesessen
Und dem Entwurfe nachgedacht,
Der seinen Namen ewig macht;
Hat hier das Riesenwerk gemessen,
Das grösste, welches je des Menschen Geist vollbracht.
Es war ein göttlicher Gedanke,
Und staunend steht die kleine Nachwelt da
An ihres Wirkens enger Schranke
Und glaubet kaum, dass es geschah.
Wie schwebte mit dem Regenbogen,
Als durch die tiefe Marmorkluft
Hinab die ersten Donnerwogen
Wild schäumend in den Abgrund flogen,
Des Mannes Seele durch die Luft!
So eine selige Minute
Wiegt einen ganzen Lebenslauf
Alltäglichen Genusses auf;
Sie knüpft das Grosse an das Gute.

chen, und es wehte ein lauer Wind, der nur in der
Gegend des Sturzes etwas kühl ward. Die Sonne stand
schon etwas tief und bildete aus der furchtbaren
Schlucht der Nera hoch in der Atmosphäre einen gan¬
zen hellen herrlich glühenden und einen gröſsern dun¬
keln Bogen im Staube des Falles. Ich saſs gegenüber
auf dem Felsen und vergaſs einige Minuten alles was
die Welt sonst groſses und schönes haben mag. Etwas
gröſseres und schöneres von Menschenhänden hat sie
schwerlich aufzuweisen. Folgendes war halb Gedanke,
halb Gefühl, als ich wieder bey mir selbst war.

Hier hat vielleicht der groſse Mann gesessen
Und dem Entwurfe nachgedacht,
Der seinen Namen ewig macht;
Hat hier das Riesenwerk gemessen,
Das gröſste, welches je des Menschen Geist vollbracht.
Es war ein göttlicher Gedanke,
Und staunend steht die kleine Nachwelt da
An ihres Wirkens enger Schranke
Und glaubet kaum, daſs es geschah.
Wie schwebte mit dem Regenbogen,
Als durch die tiefe Marmorkluft
Hinab die ersten Donnerwogen
Wild schäumend in den Abgrund flogen,
Des Mannes Seele durch die Luft!
So eine selige Minute
Wiegt einen ganzen Lebenslauf
Alltäglichen Genusses auf;
Sie knüpft das Groſse an das Gute.
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[149/0175] chen, und es wehte ein lauer Wind, der nur in der Gegend des Sturzes etwas kühl ward. Die Sonne stand schon etwas tief und bildete aus der furchtbaren Schlucht der Nera hoch in der Atmosphäre einen gan¬ zen hellen herrlich glühenden und einen gröſsern dun¬ keln Bogen im Staube des Falles. Ich saſs gegenüber auf dem Felsen und vergaſs einige Minuten alles was die Welt sonst groſses und schönes haben mag. Etwas gröſseres und schöneres von Menschenhänden hat sie schwerlich aufzuweisen. Folgendes war halb Gedanke, halb Gefühl, als ich wieder bey mir selbst war. Hier hat vielleicht der groſse Mann gesessen Und dem Entwurfe nachgedacht, Der seinen Namen ewig macht; Hat hier das Riesenwerk gemessen, Das gröſste, welches je des Menschen Geist vollbracht. Es war ein göttlicher Gedanke, Und staunend steht die kleine Nachwelt da An ihres Wirkens enger Schranke Und glaubet kaum, daſs es geschah. Wie schwebte mit dem Regenbogen, Als durch die tiefe Marmorkluft Hinab die ersten Donnerwogen Wild schäumend in den Abgrund flogen, Des Mannes Seele durch die Luft! So eine selige Minute Wiegt einen ganzen Lebenslauf Alltäglichen Genusses auf; Sie knüpft das Groſse an das Gute.

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Zitationshilfe: Seume, Johann Gottfried: Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802. Braunschweig u. a., 1803, S. 149. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seume_syrakus_1803/175>, abgerufen am 25.04.2024.