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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

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werden in den eben erörterten Formen viele der Kräfte, die pse_029.002
in der Sprache ruhen, ausgeschaltet. Nur mehr das an ihr wird pse_029.003
verwertet, was zum Zweck der Darstellung von etwas pse_029.004
Außersprachlichem nützlich ist. Da diese Art sprachlicher pse_029.005
Werke heute bei der weit entwickelten Zivilisationslage an pse_029.006
Menge unbedingt herrscht, haben wir damit einen Zug in pse_029.007
jeder Sprachentwicklung mit aufgegriffen: die Sprache zu pse_029.008
einem immer vollkommeneren Werkzeug im Dienst der pse_029.009
Mitteilung und der äußerlichen Verständigung zu machen; ihre pse_029.010
Formengebung ist nur mehr von wirtschaftlichen Gesetzen pse_029.011
im weitesten Sinn beherrscht. Es genügt zu wissen, was der pse_029.012
Sprechende meint, je deutlicher und einfacher er es sagt, pse_029.013
desto besser. Wir sprechen von der fortschreitenden Ökonomisierung pse_029.014
der Sprache.

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Aber nun ein möglichst scharfes Gegenbeispiel zum Polizeibericht, pse_029.016
von dem wir ausgegangen sind:

pse_029.017

Über allen Gipfeln pse_029.018
Ist Ruh, pse_029.019
In allen Wipfeln pse_029.020
Spürest du pse_029.021
Kaum einen Hauch; pse_029.022
Die Vögelein schweigen im Walde. pse_029.023
Warte nur, balde pse_029.024
Ruhest du auch.
(Goethe)

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Jeder, der für Dichtung aufgeschlossen ist und die deutsche pse_029.026
Sprache kennt, wird sofort erkennen, daß es hier nicht genügt, pse_029.027
einen Sachverhalt festzustellen und zu akzeptieren: daß über pse_029.028
den Bergen Ruhe herrscht, daß der Wind die Baumwipfel pse_029.029
nicht mehr bewegt, daß die Vögel schon in ihren Nestern pse_029.030
schlafen und daß auch der Mensch bald schlafen wird. Je pse_029.031
mehr diese "Paraphrase" als Schändung des Gedichtes empfunden pse_029.032
wird, desto besser für das, was wir hier herausarbeiten pse_029.033
wollen: Man kann unmöglich hier von einem nüchternen pse_029.034
Sachverhalt reden, der in verschiedenen sprachlichen Formen pse_029.035
mitgeteilt werden könnte. Denn in jeder anderen ginge viel pse_029.036
von dem verloren, was dieses Gedicht ist. In diesen wenigen pse_029.037
Versen ist Sprache viel mehr, als daß sie bloß in der zweckmäßigsten pse_029.038
Form etwas mitteilen wollte. Eine Fülle sprachlicher

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werden in den eben erörterten Formen viele der Kräfte, die pse_029.002
in der Sprache ruhen, ausgeschaltet. Nur mehr das an ihr wird pse_029.003
verwertet, was zum Zweck der Darstellung von etwas pse_029.004
Außersprachlichem nützlich ist. Da diese Art sprachlicher pse_029.005
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der Sprache.

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Aber nun ein möglichst scharfes Gegenbeispiel zum Polizeibericht, pse_029.016
von dem wir ausgegangen sind:

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Über allen Gipfeln pse_029.018
Ist Ruh, pse_029.019
In allen Wipfeln pse_029.020
Spürest du pse_029.021
Kaum einen Hauch; pse_029.022
Die Vögelein schweigen im Walde. pse_029.023
Warte nur, balde pse_029.024
Ruhest du auch.
(Goethe)

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Jeder, der für Dichtung aufgeschlossen ist und die deutsche pse_029.026
Sprache kennt, wird sofort erkennen, daß es hier nicht genügt, pse_029.027
einen Sachverhalt festzustellen und zu akzeptieren: daß über pse_029.028
den Bergen Ruhe herrscht, daß der Wind die Baumwipfel pse_029.029
nicht mehr bewegt, daß die Vögel schon in ihren Nestern pse_029.030
schlafen und daß auch der Mensch bald schlafen wird. Je pse_029.031
mehr diese »Paraphrase« als Schändung des Gedichtes empfunden pse_029.032
wird, desto besser für das, was wir hier herausarbeiten pse_029.033
wollen: Man kann unmöglich hier von einem nüchternen pse_029.034
Sachverhalt reden, der in verschiedenen sprachlichen Formen pse_029.035
mitgeteilt werden könnte. Denn in jeder anderen ginge viel pse_029.036
von dem verloren, was dieses Gedicht ist. In diesen wenigen pse_029.037
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Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 29. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/45>, abgerufen am 29.03.2024.