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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

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und durch höfisch-gesellschaftliche Formbildungen. pse_004.002
So erhielt die Barockpoetik einen mehr kompilatorischen pse_004.003
Charakter. Aber es treten damals schon erste Spuren eines pse_004.004
langsamen Zurückweichens der lehrhaften Poetik auf. Bei pse_004.005
Gryphius spürt man schon Ansätze zu einer irgendwie geahnten pse_004.006
Poetik als unmittelbaren Ausdruck des Kunstwollens.

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Im Zeitalter der Aufklärung scheiden sich die Nationen pse_004.008
schon deutlicher: die französische Poetik arbeitet seit Boileau pse_004.009
mehr an einer gleichsam mathematischen Demonstrierbarkeit pse_004.010
der Regeln, England bringt eine Lockerung durch stärkere pse_004.011
Betonung des Gefühls und den im englischen Roman aufkommenden pse_004.012
Realismus. Welche Bedeutung die Bemühungen pse_004.013
um die Poetik in Deutschland während der Aufklärungszeit pse_004.014
hatten, ist bekannt. Es geht jetzt um eine mehr philosophische pse_004.015
Grundlegung der Poetik, und so wird die Ästhetik als pse_004.016
Wissenschaft vorbereitet. So im Streit Gottscheds mit den pse_004.017
Schweizern, von Johann Elias Schlegel besonders fürs Drama, pse_004.018
von Baumgarten und seinem Schüler Meier, dann vor allem pse_004.019
im Briefwechsel zwischen Lessing, Nicolai und Mendelssohn, pse_004.020
endlich in den Arbeiten Lessings, der um eine feste Ordnung pse_004.021
der Gattungen ringt. Dabei wird aber damals der Gattungsbegriff pse_004.022
noch nicht klar entwickelt, vor allem fehlt eine tiefere pse_004.023
Erkenntnis der Lyrik, die Didaktik ist noch überbetont.

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Mit dem deutschen Idealismus, der im Sturm und Drang pse_004.025
sich gegen die Aufklärung durchsetzt und mit der Klassik pse_004.026
und vor allem mit der Romantik sich voll entfaltet, vollzieht pse_004.027
sich ein entscheidender Wandel in der Auffassung von der pse_004.028
Poetik. Herder, Goethe, Gerstenberg und Lenz setzen statt pse_004.029
Kritik Deutung, d. h. aber, daß es nicht mehr so sehr auf die pse_004.030
Aufstellung von Regeln ankommt, auch nicht mehr auf die pse_004.031
Dichtung als erlernbare Technik. Goethe und Schiller ringen pse_004.032
um eine tiefere Begründung der Gattungen und sehen die pse_004.033
Dichtungslehre schon in einem entscheidenden Zusammenhang pse_004.034
mit der Kulturphilosophie. Von jetzt an beginnt die pse_004.035
Philosophie ihren Anspruch als Grundlage jeder Poetik zu pse_004.036
stellen, eine Forderung, die noch an Heideggers Schriften zur pse_004.037
"Poetik" zu erkennen ist. Besonders die Romantik, sowohl pse_004.038
die Philosophen wie Schelling und Solger als auch alle Theoretiker

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So erhielt die Barockpoetik einen mehr kompilatorischen pse_004.003
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langsamen Zurückweichens der lehrhaften Poetik auf. Bei pse_004.005
Gryphius spürt man schon Ansätze zu einer irgendwie geahnten pse_004.006
Poetik als unmittelbaren Ausdruck des Kunstwollens.

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Betonung des Gefühls und den im englischen Roman aufkommenden pse_004.012
Realismus. Welche Bedeutung die Bemühungen pse_004.013
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Grundlegung der Poetik, und so wird die Ästhetik als pse_004.016
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Erkenntnis der Lyrik, die Didaktik ist noch überbetont.

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sich gegen die Aufklärung durchsetzt und mit der Klassik pse_004.026
und vor allem mit der Romantik sich voll entfaltet, vollzieht pse_004.027
sich ein entscheidender Wandel in der Auffassung von der pse_004.028
Poetik. Herder, Goethe, Gerstenberg und Lenz setzen statt pse_004.029
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Aufstellung von Regeln ankommt, auch nicht mehr auf die pse_004.031
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um eine tiefere Begründung der Gattungen und sehen die pse_004.033
Dichtungslehre schon in einem entscheidenden Zusammenhang pse_004.034
mit der Kulturphilosophie. Von jetzt an beginnt die pse_004.035
Philosophie ihren Anspruch als Grundlage jeder Poetik zu pse_004.036
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Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 4. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/20>, abgerufen am 19.04.2024.