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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

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Poetik war bis zum Ende des 18. Jahrhunderts Anweisung pse_003.002
zum Abfassen von Dichtungen, gab die Regeln für die Arten, pse_003.003
stellte Gesetze auf, wie eine Tragödie zu schreiben sei, welche pse_003.004
Personen in einer Komödie vorkommen dürfen usw.

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Aristoteles trat zunächst in der Dichtungslehre des Mittelalters pse_003.006
etwas zurück. Mitteilungen über Dichtung fand man pse_003.007
damals hauptsächlich in Dichtungen selbst, z. B. die berühmte pse_003.008
Beleuchtung der zeitgenössischen Ritterdichter durch Gottfried pse_003.009
von Straßburg vor der Darstellung der Schwertleite pse_003.010
des Helden im "Tristan". Formale Betrachtungen standen im pse_003.011
Mittelalter im Vordergrunde. Die Achtung vor den überlieferten pse_003.012
Formen und Ordnungen ist ein Stück der religiösen pse_003.013
Erfahrung der Gesamtordnung des Seins: diese Gesamtordnung pse_003.014
offenbart sich eben auch auf dem Gebiet der Dichtung pse_003.015
in diesen geheiligten Ordnungen.

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Die Zeit des Humanismus und der Renaissance stellt zwei pse_003.017
Möglichkeiten, Dichtung zu betrachten, gegenüber. Die eine pse_003.018
sieht das Schöpferische in den Dichtern, den Dichter als pse_003.019
Seher (vates). So vor allem Hieronymus Vida in seinem Werk pse_003.020
"De arte poetica" (1527), später auch Giordano Bruno in den pse_003.021
"Eroici furori" (London 1585). Aber diese Seite an der Dichtung pse_003.022
wurde damals nicht theoretisch erörtert, sondern die pse_003.023
andere: Dichtung als lehr- und lernbare Technik, sie betont pse_003.024
auch Vida. In diesem Sinne deutete man damals auch Aristoteles, pse_003.025
der damit seit Robortellis Kommentar 1548 zum Grundbuch pse_003.026
der abendländischen Dichtungslehre bis zu Herder pse_003.027
wurde. Bis zur Wende des 18. Jahrhunderts gab es über 100 pse_003.028
Ausgaben und Übersetzungen (die erste deutsche von Curtius pse_003.029
1755 wurde noch von Goethe und Schiller benutzt). Aristoteles pse_003.030
brachte keinen Umbruch, sondern er wurde als Bestätigung pse_003.031
bereits bestehender Traditionen angesehen. Die bedeutendste pse_003.032
Poetik der Renaissance war die des Julius Cäsar pse_003.033
Scaliger 1561: Poetices libri septem. Ein Hauptbegriff der pse_003.034
damaligen Poetik war die Nachahmung (imitatio), womit pse_003.035
die Nachahmung der hohen Muster gemeint war.

pse_003.036
Der Barock schließt sich wohl noch an die Überlieferung pse_003.037
an, erweitert aber die Sicht durch die Anfänge einer nationalen pse_003.038
Kulturpädagogik, durch christlich-moralische Forderungen

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Poetik war bis zum Ende des 18. Jahrhunderts Anweisung pse_003.002
zum Abfassen von Dichtungen, gab die Regeln für die Arten, pse_003.003
stellte Gesetze auf, wie eine Tragödie zu schreiben sei, welche pse_003.004
Personen in einer Komödie vorkommen dürfen usw.

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Aristoteles trat zunächst in der Dichtungslehre des Mittelalters pse_003.006
etwas zurück. Mitteilungen über Dichtung fand man pse_003.007
damals hauptsächlich in Dichtungen selbst, z. B. die berühmte pse_003.008
Beleuchtung der zeitgenössischen Ritterdichter durch Gottfried pse_003.009
von Straßburg vor der Darstellung der Schwertleite pse_003.010
des Helden im »Tristan«. Formale Betrachtungen standen im pse_003.011
Mittelalter im Vordergrunde. Die Achtung vor den überlieferten pse_003.012
Formen und Ordnungen ist ein Stück der religiösen pse_003.013
Erfahrung der Gesamtordnung des Seins: diese Gesamtordnung pse_003.014
offenbart sich eben auch auf dem Gebiet der Dichtung pse_003.015
in diesen geheiligten Ordnungen.

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Die Zeit des Humanismus und der Renaissance stellt zwei pse_003.017
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sieht das Schöpferische in den Dichtern, den Dichter als pse_003.019
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»De arte poetica« (1527), später auch Giordano Bruno in den pse_003.021
»Eroici furori« (London 1585). Aber diese Seite an der Dichtung pse_003.022
wurde damals nicht theoretisch erörtert, sondern die pse_003.023
andere: Dichtung als lehr- und lernbare Technik, sie betont pse_003.024
auch Vida. In diesem Sinne deutete man damals auch Aristoteles, pse_003.025
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der abendländischen Dichtungslehre bis zu Herder pse_003.027
wurde. Bis zur Wende des 18. Jahrhunderts gab es über 100 pse_003.028
Ausgaben und Übersetzungen (die erste deutsche von Curtius pse_003.029
1755 wurde noch von Goethe und Schiller benutzt). Aristoteles pse_003.030
brachte keinen Umbruch, sondern er wurde als Bestätigung pse_003.031
bereits bestehender Traditionen angesehen. Die bedeutendste pse_003.032
Poetik der Renaissance war die des Julius Cäsar pse_003.033
Scaliger 1561: Poetices libri septem. Ein Hauptbegriff der pse_003.034
damaligen Poetik war die Nachahmung (imitatio), womit pse_003.035
die Nachahmung der hohen Muster gemeint war.

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Der Barock schließt sich wohl noch an die Überlieferung pse_003.037
an, erweitert aber die Sicht durch die Anfänge einer nationalen pse_003.038
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[3/0019] pse_003.001 Poetik war bis zum Ende des 18. Jahrhunderts Anweisung pse_003.002 zum Abfassen von Dichtungen, gab die Regeln für die Arten, pse_003.003 stellte Gesetze auf, wie eine Tragödie zu schreiben sei, welche pse_003.004 Personen in einer Komödie vorkommen dürfen usw. pse_003.005 Aristoteles trat zunächst in der Dichtungslehre des Mittelalters pse_003.006 etwas zurück. Mitteilungen über Dichtung fand man pse_003.007 damals hauptsächlich in Dichtungen selbst, z. B. die berühmte pse_003.008 Beleuchtung der zeitgenössischen Ritterdichter durch Gottfried pse_003.009 von Straßburg vor der Darstellung der Schwertleite pse_003.010 des Helden im »Tristan«. Formale Betrachtungen standen im pse_003.011 Mittelalter im Vordergrunde. Die Achtung vor den überlieferten pse_003.012 Formen und Ordnungen ist ein Stück der religiösen pse_003.013 Erfahrung der Gesamtordnung des Seins: diese Gesamtordnung pse_003.014 offenbart sich eben auch auf dem Gebiet der Dichtung pse_003.015 in diesen geheiligten Ordnungen. pse_003.016 Die Zeit des Humanismus und der Renaissance stellt zwei pse_003.017 Möglichkeiten, Dichtung zu betrachten, gegenüber. Die eine pse_003.018 sieht das Schöpferische in den Dichtern, den Dichter als pse_003.019 Seher (vates). So vor allem Hieronymus Vida in seinem Werk pse_003.020 »De arte poetica« (1527), später auch Giordano Bruno in den pse_003.021 »Eroici furori« (London 1585). Aber diese Seite an der Dichtung pse_003.022 wurde damals nicht theoretisch erörtert, sondern die pse_003.023 andere: Dichtung als lehr- und lernbare Technik, sie betont pse_003.024 auch Vida. In diesem Sinne deutete man damals auch Aristoteles, pse_003.025 der damit seit Robortellis Kommentar 1548 zum Grundbuch pse_003.026 der abendländischen Dichtungslehre bis zu Herder pse_003.027 wurde. Bis zur Wende des 18. Jahrhunderts gab es über 100 pse_003.028 Ausgaben und Übersetzungen (die erste deutsche von Curtius pse_003.029 1755 wurde noch von Goethe und Schiller benutzt). Aristoteles pse_003.030 brachte keinen Umbruch, sondern er wurde als Bestätigung pse_003.031 bereits bestehender Traditionen angesehen. Die bedeutendste pse_003.032 Poetik der Renaissance war die des Julius Cäsar pse_003.033 Scaliger 1561: Poetices libri septem. Ein Hauptbegriff der pse_003.034 damaligen Poetik war die Nachahmung (imitatio), womit pse_003.035 die Nachahmung der hohen Muster gemeint war. pse_003.036 Der Barock schließt sich wohl noch an die Überlieferung pse_003.037 an, erweitert aber die Sicht durch die Anfänge einer nationalen pse_003.038 Kulturpädagogik, durch christlich-moralische Forderungen

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Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 3. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/19>, abgerufen am 24.04.2024.