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Schweiger-Lerchenfeld, Amand von: Armenien. Ein Bild seiner Natur und seiner Bewohner. Jena, 1878.

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Kars.
des Winters dann allerdings ausgiebig genug, bei Temperatur-
Minima von 20 Grad C. unter Null, den Boden zu bedecken
pflegt1. Aber es fehlen dem Karser Plateau die vielartigen en-
demischen Krankheiten, welche die, geographisch viel günstiger ge-
legenen Nachbargebiete heimzusuchen pflegen, und selbst die Epi-
demien streifen nur selten die einsame Hochlandsstadt. Gleichwohl
ist das Land um Kars äußerst dünn bevölkert und es soll nach
einem russischen Berichte auf einer Fläche von mehr als 5000
Quadrat-Werst keine 300 Dörfer geben, oder 16 Quadrat-
Werst auf ein Dorf (circa 30,000 Einwohner, Kars inbegriffen, für
das ganze Land). Aber selbst die wenig vorhandenen Dörfer
sind für das Auge des Beobachters -- wie schon oben erwähnt
-- nicht eigentlich sichtbar und nur die steinernen Stirnfronten
der Erdlöcher treten an Terrain-Anschwellungen zu Tage. In
diesen Troglodyten-Löchern hausen Menschen und Thiere in
brüderlicher Gemeinschaft, und nur eine dünne Matte, oder ein
defecter kurdischer Teppich, sowie eine kleine Erhöhung des Hütten-
bodens trennt die ersteren von den letzteren2. Licht vermag nur
durch die Thüre einzudringen, welche übrigens stark genug her-
gestellt ist, um auch den zeitweiiigen Angriffen der kurdischen
Räuber widerstehen zu können. Daß die einzelnen Vorstädte
von Kars gleichfalls über eine bedeutende Zahl derartiger erbärm-
licher Wohnstätten verfügen, geht aus verschiedenen Andeutungen
von Reisenden und Berichterstattern hervor ... 3

1 Vgl. Hamilton, "Asia minor", I, 206.
2 Ansichten bei W. Ouseley, Trav., III.
3 Der leere Raum unter den "schwellenden Ottomanen" dieser Mist-
hütten wird niemals gereinigt. Dort leben, lieben und gebären die Katzen;
dort erblicken Milliarden Flöhe das Licht der Welt und finden die ewige
Ruhe; dort träumen Billionen Wanzen des Lebens seligen Traum. Und
Nachts marschiren sie auf, zahlreicher denn die Streiter Sanheribs, und
peinigen ihren Erbfeind, den Menschen, bis zum Wahnsinn. Die Orien-
talen wissen sich täglich einige Minuten Ruhe zu verschaffen. Die Fladen,
welche als Serviette und Brod dienen, werden in großen, in die Erde
gegrabenen Töpfen bereitet; sobald sie gar sind, entkleiden sich alle Mit-
glieder ohne Unterschied des Alters und Geschlechts und schütteln ihre
Kleidungsstücke über dem Topfe, so daß das betäubte Ungeziefer hinein-
fällt, knisternd verbrennt, um in Kohlenform in dem nächsttägigen Fladen
gegessen zu werden (Brief in der "Allg. Zeitg.", 1877, Nr. 242).

Kars.
des Winters dann allerdings ausgiebig genug, bei Temperatur-
Minima von 20 Grad C. unter Null, den Boden zu bedecken
pflegt1. Aber es fehlen dem Karſer Plateau die vielartigen en-
demiſchen Krankheiten, welche die, geographiſch viel günſtiger ge-
legenen Nachbargebiete heimzuſuchen pflegen, und ſelbſt die Epi-
demien ſtreifen nur ſelten die einſame Hochlandsſtadt. Gleichwohl
iſt das Land um Kars äußerſt dünn bevölkert und es ſoll nach
einem ruſſiſchen Berichte auf einer Fläche von mehr als 5000
Quadrat-Werſt keine 300 Dörfer geben, oder 16 Quadrat-
Werſt auf ein Dorf (circa 30,000 Einwohner, Kars inbegriffen, für
das ganze Land). Aber ſelbſt die wenig vorhandenen Dörfer
ſind für das Auge des Beobachters — wie ſchon oben erwähnt
— nicht eigentlich ſichtbar und nur die ſteinernen Stirnfronten
der Erdlöcher treten an Terrain-Anſchwellungen zu Tage. In
dieſen Troglodyten-Löchern hauſen Menſchen und Thiere in
brüderlicher Gemeinſchaft, und nur eine dünne Matte, oder ein
defecter kurdiſcher Teppich, ſowie eine kleine Erhöhung des Hütten-
bodens trennt die erſteren von den letzteren2. Licht vermag nur
durch die Thüre einzudringen, welche übrigens ſtark genug her-
geſtellt iſt, um auch den zeitweiiigen Angriffen der kurdiſchen
Räuber widerſtehen zu können. Daß die einzelnen Vorſtädte
von Kars gleichfalls über eine bedeutende Zahl derartiger erbärm-
licher Wohnſtätten verfügen, geht aus verſchiedenen Andeutungen
von Reiſenden und Berichterſtattern hervor … 3

1 Vgl. Hamilton, „Asia minor“, I, 206.
2 Anſichten bei W. Ouſeley, Trav., III.
3 Der leere Raum unter den „ſchwellenden Ottomanen“ dieſer Miſt-
hütten wird niemals gereinigt. Dort leben, lieben und gebären die Katzen;
dort erblicken Milliarden Flöhe das Licht der Welt und finden die ewige
Ruhe; dort träumen Billionen Wanzen des Lebens ſeligen Traum. Und
Nachts marſchiren ſie auf, zahlreicher denn die Streiter Sanheribs, und
peinigen ihren Erbfeind, den Menſchen, bis zum Wahnſinn. Die Orien-
talen wiſſen ſich täglich einige Minuten Ruhe zu verſchaffen. Die Fladen,
welche als Serviette und Brod dienen, werden in großen, in die Erde
gegrabenen Töpfen bereitet; ſobald ſie gar ſind, entkleiden ſich alle Mit-
glieder ohne Unterſchied des Alters und Geſchlechts und ſchütteln ihre
Kleidungsſtücke über dem Topfe, ſo daß das betäubte Ungeziefer hinein-
fällt, kniſternd verbrennt, um in Kohlenform in dem nächſttägigen Fladen
gegeſſen zu werden (Brief in der „Allg. Zeitg.“, 1877, Nr. 242).
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[13/0045] Kars. des Winters dann allerdings ausgiebig genug, bei Temperatur- Minima von 20 Grad C. unter Null, den Boden zu bedecken pflegt 1. Aber es fehlen dem Karſer Plateau die vielartigen en- demiſchen Krankheiten, welche die, geographiſch viel günſtiger ge- legenen Nachbargebiete heimzuſuchen pflegen, und ſelbſt die Epi- demien ſtreifen nur ſelten die einſame Hochlandsſtadt. Gleichwohl iſt das Land um Kars äußerſt dünn bevölkert und es ſoll nach einem ruſſiſchen Berichte auf einer Fläche von mehr als 5000 Quadrat-Werſt keine 300 Dörfer geben, oder 16 Quadrat- Werſt auf ein Dorf (circa 30,000 Einwohner, Kars inbegriffen, für das ganze Land). Aber ſelbſt die wenig vorhandenen Dörfer ſind für das Auge des Beobachters — wie ſchon oben erwähnt — nicht eigentlich ſichtbar und nur die ſteinernen Stirnfronten der Erdlöcher treten an Terrain-Anſchwellungen zu Tage. In dieſen Troglodyten-Löchern hauſen Menſchen und Thiere in brüderlicher Gemeinſchaft, und nur eine dünne Matte, oder ein defecter kurdiſcher Teppich, ſowie eine kleine Erhöhung des Hütten- bodens trennt die erſteren von den letzteren 2. Licht vermag nur durch die Thüre einzudringen, welche übrigens ſtark genug her- geſtellt iſt, um auch den zeitweiiigen Angriffen der kurdiſchen Räuber widerſtehen zu können. Daß die einzelnen Vorſtädte von Kars gleichfalls über eine bedeutende Zahl derartiger erbärm- licher Wohnſtätten verfügen, geht aus verſchiedenen Andeutungen von Reiſenden und Berichterſtattern hervor … 3 1 Vgl. Hamilton, „Asia minor“, I, 206. 2 Anſichten bei W. Ouſeley, Trav., III. 3 Der leere Raum unter den „ſchwellenden Ottomanen“ dieſer Miſt- hütten wird niemals gereinigt. Dort leben, lieben und gebären die Katzen; dort erblicken Milliarden Flöhe das Licht der Welt und finden die ewige Ruhe; dort träumen Billionen Wanzen des Lebens ſeligen Traum. Und Nachts marſchiren ſie auf, zahlreicher denn die Streiter Sanheribs, und peinigen ihren Erbfeind, den Menſchen, bis zum Wahnſinn. Die Orien- talen wiſſen ſich täglich einige Minuten Ruhe zu verſchaffen. Die Fladen, welche als Serviette und Brod dienen, werden in großen, in die Erde gegrabenen Töpfen bereitet; ſobald ſie gar ſind, entkleiden ſich alle Mit- glieder ohne Unterſchied des Alters und Geſchlechts und ſchütteln ihre Kleidungsſtücke über dem Topfe, ſo daß das betäubte Ungeziefer hinein- fällt, kniſternd verbrennt, um in Kohlenform in dem nächſttägigen Fladen gegeſſen zu werden (Brief in der „Allg. Zeitg.“, 1877, Nr. 242).

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Zitationshilfe: Schweiger-Lerchenfeld, Amand von: Armenien. Ein Bild seiner Natur und seiner Bewohner. Jena, 1878, S. 13. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schweiger_armenien_1878/45>, abgerufen am 19.04.2024.