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Schweiger-Lerchenfeld, Amand von: Armenien. Ein Bild seiner Natur und seiner Bewohner. Jena, 1878.

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Rußland und England in Vorder-Asien.

So sehen wir unleugbar das mälige Anwachsen der brittischen
Herrschaft am Persermeere. Welcher Contact aber liegt nun
zwischen den Territorien daselbst und den elenden Hochsteppen
Armeniens oder den verwahrlosten pontischen Küstenstädten?
Wir haben darüber aus dem Munde der englischen Staatsmänner
nie etwas Positives erfahren, weil der fragliche Contact gar
nicht existirt. Englands Interessen-Linien laufen schon seit Jahr-
zehnten von den Delta-Marschen des Nil und der syrischen Küste
nach dem Persischen Golfe, beziehungsweise nach Indien, während
jene Rußlands identisch sein dürften mit den alten Handelswegen
vom Pontus durch Armenien nach Nord-Persien. Beide Linien-
Zonen, wenn dieser Ausdruck erlaubt ist, laufen zu einander
parallel, aber auch nur der Theorie nach; in Wahrheit liegt
zwischen dieser beiderseitigen Interessen-Sphäre ein ganzes Reich
-- Türkisch-Asien -- und der Massenumsatz zweier ganz ver-
schiedener Welthälften, der nördlichen und der südlichen. Die
eingebildete Gefahr, daß durch den russischen Besitz der Eufrat-
quellen Englands Machteinfluß in Vorder-Asien lahmgelegt werden
könnte, ist somit nicht einmal eine geographisch stichhaltige, ge-
schweige eine greifbar politische oder commerzielle. Wenn indeß
die Engländer glauben, daß in letzterer Beziehung die Russen in
Armenien dennoch ein schwerwiegender Factor seien, so wäre
dagegen nur einzuwenden, daß über Erzerum und Armenien
überhaupt der englische Handel von und nach Indien gleich Null
ist, daß von den durchschnittlich 300 Post- und Waaren-Dampfern,
welche jährlich den Hafen von Trapezunt anlaufen, nur fünf
englischer Flagge und ein ganzes Drittel russischer Flagge sind,
und daß unter den 1000 Transport-Dampfern, welche jahrein
und jahraus nach und von den Seeplätzen Kerasunt, Ineboli und
Samsun an der Pontusküste verkehren, nach dem letzten statistischen
Ausweis (1876) nur -- sieben englischer Flagge waren. Unter
solchen Umständen vermag man durchaus nicht die Logik heraus-
zufinden, nach der man in England Interessen bedroht sehen
will, die thatsächlich, wenigstens in commerzieller Beziehung gar
nicht existiren.

Hiebei geht die öffentliche Meinung in England auch in
anderer Beziehung zu weit, namentlich wenn sie -- wie un-
mittelbar nach Schluß des russisch-türkischen Krieges -- in Bezug

Rußland und England in Vorder-Aſien.

So ſehen wir unleugbar das mälige Anwachſen der brittiſchen
Herrſchaft am Perſermeere. Welcher Contact aber liegt nun
zwiſchen den Territorien daſelbſt und den elenden Hochſteppen
Armeniens oder den verwahrloſten pontiſchen Küſtenſtädten?
Wir haben darüber aus dem Munde der engliſchen Staatsmänner
nie etwas Poſitives erfahren, weil der fragliche Contact gar
nicht exiſtirt. Englands Intereſſen-Linien laufen ſchon ſeit Jahr-
zehnten von den Delta-Marſchen des Nil und der ſyriſchen Küſte
nach dem Perſiſchen Golfe, beziehungsweiſe nach Indien, während
jene Rußlands identiſch ſein dürften mit den alten Handelswegen
vom Pontus durch Armenien nach Nord-Perſien. Beide Linien-
Zonen, wenn dieſer Ausdruck erlaubt iſt, laufen zu einander
parallel, aber auch nur der Theorie nach; in Wahrheit liegt
zwiſchen dieſer beiderſeitigen Intereſſen-Sphäre ein ganzes Reich
— Türkiſch-Aſien — und der Maſſenumſatz zweier ganz ver-
ſchiedener Welthälften, der nördlichen und der ſüdlichen. Die
eingebildete Gefahr, daß durch den ruſſiſchen Beſitz der Eufrat-
quellen Englands Machteinfluß in Vorder-Aſien lahmgelegt werden
könnte, iſt ſomit nicht einmal eine geographiſch ſtichhaltige, ge-
ſchweige eine greifbar politiſche oder commerzielle. Wenn indeß
die Engländer glauben, daß in letzterer Beziehung die Ruſſen in
Armenien dennoch ein ſchwerwiegender Factor ſeien, ſo wäre
dagegen nur einzuwenden, daß über Erzerum und Armenien
überhaupt der engliſche Handel von und nach Indien gleich Null
iſt, daß von den durchſchnittlich 300 Poſt- und Waaren-Dampfern,
welche jährlich den Hafen von Trapezunt anlaufen, nur fünf
engliſcher Flagge und ein ganzes Drittel ruſſiſcher Flagge ſind,
und daß unter den 1000 Transport-Dampfern, welche jahrein
und jahraus nach und von den Seeplätzen Keraſunt, Ineboli und
Samſun an der Pontusküſte verkehren, nach dem letzten ſtatiſtiſchen
Ausweis (1876) nur — ſieben engliſcher Flagge waren. Unter
ſolchen Umſtänden vermag man durchaus nicht die Logik heraus-
zufinden, nach der man in England Intereſſen bedroht ſehen
will, die thatſächlich, wenigſtens in commerzieller Beziehung gar
nicht exiſtiren.

Hiebei geht die öffentliche Meinung in England auch in
anderer Beziehung zu weit, namentlich wenn ſie — wie un-
mittelbar nach Schluß des ruſſiſch-türkiſchen Krieges — in Bezug

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[XIX/0023] Rußland und England in Vorder-Aſien. So ſehen wir unleugbar das mälige Anwachſen der brittiſchen Herrſchaft am Perſermeere. Welcher Contact aber liegt nun zwiſchen den Territorien daſelbſt und den elenden Hochſteppen Armeniens oder den verwahrloſten pontiſchen Küſtenſtädten? Wir haben darüber aus dem Munde der engliſchen Staatsmänner nie etwas Poſitives erfahren, weil der fragliche Contact gar nicht exiſtirt. Englands Intereſſen-Linien laufen ſchon ſeit Jahr- zehnten von den Delta-Marſchen des Nil und der ſyriſchen Küſte nach dem Perſiſchen Golfe, beziehungsweiſe nach Indien, während jene Rußlands identiſch ſein dürften mit den alten Handelswegen vom Pontus durch Armenien nach Nord-Perſien. Beide Linien- Zonen, wenn dieſer Ausdruck erlaubt iſt, laufen zu einander parallel, aber auch nur der Theorie nach; in Wahrheit liegt zwiſchen dieſer beiderſeitigen Intereſſen-Sphäre ein ganzes Reich — Türkiſch-Aſien — und der Maſſenumſatz zweier ganz ver- ſchiedener Welthälften, der nördlichen und der ſüdlichen. Die eingebildete Gefahr, daß durch den ruſſiſchen Beſitz der Eufrat- quellen Englands Machteinfluß in Vorder-Aſien lahmgelegt werden könnte, iſt ſomit nicht einmal eine geographiſch ſtichhaltige, ge- ſchweige eine greifbar politiſche oder commerzielle. Wenn indeß die Engländer glauben, daß in letzterer Beziehung die Ruſſen in Armenien dennoch ein ſchwerwiegender Factor ſeien, ſo wäre dagegen nur einzuwenden, daß über Erzerum und Armenien überhaupt der engliſche Handel von und nach Indien gleich Null iſt, daß von den durchſchnittlich 300 Poſt- und Waaren-Dampfern, welche jährlich den Hafen von Trapezunt anlaufen, nur fünf engliſcher Flagge und ein ganzes Drittel ruſſiſcher Flagge ſind, und daß unter den 1000 Transport-Dampfern, welche jahrein und jahraus nach und von den Seeplätzen Keraſunt, Ineboli und Samſun an der Pontusküſte verkehren, nach dem letzten ſtatiſtiſchen Ausweis (1876) nur — ſieben engliſcher Flagge waren. Unter ſolchen Umſtänden vermag man durchaus nicht die Logik heraus- zufinden, nach der man in England Intereſſen bedroht ſehen will, die thatſächlich, wenigſtens in commerzieller Beziehung gar nicht exiſtiren. Hiebei geht die öffentliche Meinung in England auch in anderer Beziehung zu weit, namentlich wenn ſie — wie un- mittelbar nach Schluß des ruſſiſch-türkiſchen Krieges — in Bezug

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Zitationshilfe: Schweiger-Lerchenfeld, Amand von: Armenien. Ein Bild seiner Natur und seiner Bewohner. Jena, 1878, S. XIX. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schweiger_armenien_1878/23>, abgerufen am 25.04.2024.