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Schweiger-Lerchenfeld, Amand von: Armenien. Ein Bild seiner Natur und seiner Bewohner. Jena, 1878.

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Einleitende Bemerkungen.
schaft nicht froh werden konnte, zunächst aus Mangel an Capital,
so stand hinter ihm dennoch die russische Regierung, wobei
allerdings keine solidarische Verpflichtung behufs Realisirung des
Unternehmens vorlag. Zweifellos ist es, daß der Beherrscher
des Sonnenreiches, dem "Punkte, zu dem die Welt sich neigt",
im russischen Sinne handelte und sich überhaupt an den nor-
dischen Nachbar enger anschloß. Gleichzeitig ereigneten sich bald
hierauf jene großen Katastrophen zu Constantinopel (1876),
welche dem türkisch-serbischen und türkisch-russischen Kriege voran-
gingen, und ein königlicher Prinz aus dem Geschlechte der Kad-
scharen (man sagt der Thronfolger), fand sich veranlaßt, den
verwegenen Ausspruch zu thun: daß er alle osmanischen Fa-
milienglieder, falls er die Macht hiezu besäße, in Constantinopel
-- aufknüpfen würde. Das war eine sehr deutliche Sprache,
und ihr gegenüber nahmen sich die Freundschaftsversicherungen
zwischen Schah und Chalifen zum mindesten sehr drastisch aus.
Die Sympathien der schiitischen Perser zu den sunnitischen Türken
waren nie absonderlich warme; ganz und gar unerträglich aber
ist ersteren der Gedanke, die Passionsstätten ihres Glaubens,
welche am fernen Eufrat-Gestade liegen, in türkischen Händen zu
wissen. Dort ruhen in sumpfiger oder wüster Niederung, in-
mitten eines höchst unsicheren Beduinen-Territoriums, die größten
schiitischen Märtyrer, Ali zu Nedschef und sein Sohn Hossein zu
Kerbela. Alljährlich ziehen die sogenannten Todtenkarawanen
mit ihren pesthauchenden Särgen vom iranischen Hochlande in
die mesopotamische Niederung hinab, denn es ist für Perser sehr
ersprießlich in Nachbarschaft jener Heiligen zu ruhen. Die Be-
duinen aber sind da ganz anderer Meinung und so wiederholen
sich ihre räuberischen Ueberfälle auf die, im Grunde sehr sanitäts-
widrigen Leichenkarawanen, immer wieder, zum Theile aus Glau-
benshaß, anderntheils der Schätze halber, welche die Verwandten
der reichen Todten als Geschenke für die Grabmoscheen mit sich
führen. Aus diesem Anlaß ist der persisch-türkische Antagonismus
uralt, und es ist bekannt, daß noch in den ersten Jahrzehnten
unseres Jahrhunderts Persien die gewaltigsten Anstrengungen
machte, um wieder in den Besitz von Bagdad zu gelangen, über
welche Stadt jener Pilgerweg weiterhin zum Eufrat-Gestade bei
Hilleh führt. Diese Bestrebung ist auch die Lieblingsidee des

Einleitende Bemerkungen.
ſchaft nicht froh werden konnte, zunächſt aus Mangel an Capital,
ſo ſtand hinter ihm dennoch die ruſſiſche Regierung, wobei
allerdings keine ſolidariſche Verpflichtung behufs Realiſirung des
Unternehmens vorlag. Zweifellos iſt es, daß der Beherrſcher
des Sonnenreiches, dem „Punkte, zu dem die Welt ſich neigt“,
im ruſſiſchen Sinne handelte und ſich überhaupt an den nor-
diſchen Nachbar enger anſchloß. Gleichzeitig ereigneten ſich bald
hierauf jene großen Kataſtrophen zu Conſtantinopel (1876),
welche dem türkiſch-ſerbiſchen und türkiſch-ruſſiſchen Kriege voran-
gingen, und ein königlicher Prinz aus dem Geſchlechte der Kad-
ſcharen (man ſagt der Thronfolger), fand ſich veranlaßt, den
verwegenen Ausſpruch zu thun: daß er alle osmaniſchen Fa-
milienglieder, falls er die Macht hiezu beſäße, in Conſtantinopel
— aufknüpfen würde. Das war eine ſehr deutliche Sprache,
und ihr gegenüber nahmen ſich die Freundſchaftsverſicherungen
zwiſchen Schah und Chalifen zum mindeſten ſehr draſtiſch aus.
Die Sympathien der ſchiitiſchen Perſer zu den ſunnitiſchen Türken
waren nie abſonderlich warme; ganz und gar unerträglich aber
iſt erſteren der Gedanke, die Paſſionsſtätten ihres Glaubens,
welche am fernen Eufrat-Geſtade liegen, in türkiſchen Händen zu
wiſſen. Dort ruhen in ſumpfiger oder wüſter Niederung, in-
mitten eines höchſt unſicheren Beduinen-Territoriums, die größten
ſchiitiſchen Märtyrer, Ali zu Nedſchef und ſein Sohn Hoſſein zu
Kerbela. Alljährlich ziehen die ſogenannten Todtenkarawanen
mit ihren peſthauchenden Särgen vom iraniſchen Hochlande in
die meſopotamiſche Niederung hinab, denn es iſt für Perſer ſehr
erſprießlich in Nachbarſchaft jener Heiligen zu ruhen. Die Be-
duinen aber ſind da ganz anderer Meinung und ſo wiederholen
ſich ihre räuberiſchen Ueberfälle auf die, im Grunde ſehr ſanitäts-
widrigen Leichenkarawanen, immer wieder, zum Theile aus Glau-
benshaß, anderntheils der Schätze halber, welche die Verwandten
der reichen Todten als Geſchenke für die Grabmoſcheen mit ſich
führen. Aus dieſem Anlaß iſt der perſiſch-türkiſche Antagonismus
uralt, und es iſt bekannt, daß noch in den erſten Jahrzehnten
unſeres Jahrhunderts Perſien die gewaltigſten Anſtrengungen
machte, um wieder in den Beſitz von Bagdad zu gelangen, über
welche Stadt jener Pilgerweg weiterhin zum Eufrat-Geſtade bei
Hilleh führt. Dieſe Beſtrebung iſt auch die Lieblingsidee des

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[XVI/0020] Einleitende Bemerkungen. ſchaft nicht froh werden konnte, zunächſt aus Mangel an Capital, ſo ſtand hinter ihm dennoch die ruſſiſche Regierung, wobei allerdings keine ſolidariſche Verpflichtung behufs Realiſirung des Unternehmens vorlag. Zweifellos iſt es, daß der Beherrſcher des Sonnenreiches, dem „Punkte, zu dem die Welt ſich neigt“, im ruſſiſchen Sinne handelte und ſich überhaupt an den nor- diſchen Nachbar enger anſchloß. Gleichzeitig ereigneten ſich bald hierauf jene großen Kataſtrophen zu Conſtantinopel (1876), welche dem türkiſch-ſerbiſchen und türkiſch-ruſſiſchen Kriege voran- gingen, und ein königlicher Prinz aus dem Geſchlechte der Kad- ſcharen (man ſagt der Thronfolger), fand ſich veranlaßt, den verwegenen Ausſpruch zu thun: daß er alle osmaniſchen Fa- milienglieder, falls er die Macht hiezu beſäße, in Conſtantinopel — aufknüpfen würde. Das war eine ſehr deutliche Sprache, und ihr gegenüber nahmen ſich die Freundſchaftsverſicherungen zwiſchen Schah und Chalifen zum mindeſten ſehr draſtiſch aus. Die Sympathien der ſchiitiſchen Perſer zu den ſunnitiſchen Türken waren nie abſonderlich warme; ganz und gar unerträglich aber iſt erſteren der Gedanke, die Paſſionsſtätten ihres Glaubens, welche am fernen Eufrat-Geſtade liegen, in türkiſchen Händen zu wiſſen. Dort ruhen in ſumpfiger oder wüſter Niederung, in- mitten eines höchſt unſicheren Beduinen-Territoriums, die größten ſchiitiſchen Märtyrer, Ali zu Nedſchef und ſein Sohn Hoſſein zu Kerbela. Alljährlich ziehen die ſogenannten Todtenkarawanen mit ihren peſthauchenden Särgen vom iraniſchen Hochlande in die meſopotamiſche Niederung hinab, denn es iſt für Perſer ſehr erſprießlich in Nachbarſchaft jener Heiligen zu ruhen. Die Be- duinen aber ſind da ganz anderer Meinung und ſo wiederholen ſich ihre räuberiſchen Ueberfälle auf die, im Grunde ſehr ſanitäts- widrigen Leichenkarawanen, immer wieder, zum Theile aus Glau- benshaß, anderntheils der Schätze halber, welche die Verwandten der reichen Todten als Geſchenke für die Grabmoſcheen mit ſich führen. Aus dieſem Anlaß iſt der perſiſch-türkiſche Antagonismus uralt, und es iſt bekannt, daß noch in den erſten Jahrzehnten unſeres Jahrhunderts Perſien die gewaltigſten Anſtrengungen machte, um wieder in den Beſitz von Bagdad zu gelangen, über welche Stadt jener Pilgerweg weiterhin zum Eufrat-Geſtade bei Hilleh führt. Dieſe Beſtrebung iſt auch die Lieblingsidee des

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Zitationshilfe: Schweiger-Lerchenfeld, Amand von: Armenien. Ein Bild seiner Natur und seiner Bewohner. Jena, 1878, S. XVI. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schweiger_armenien_1878/20>, abgerufen am 28.03.2024.