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Schweiger-Lerchenfeld, Amand von: Armenien. Ein Bild seiner Natur und seiner Bewohner. Jena, 1878.

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Rußland und England in Vorder-Asien.
lassung hatte ..." Das war der seinerzeitige Repräsentant des
englischen Einflusses in Kurdistan; er hatte es auch dahin ge-
bracht, daß der nach Persien (Urumia) exilirte Nestorianer-Pa-
triarch Mar Schimun alle nestorianischen Anhänger der ameri-
kanischen (nicht bischöflichen) Kirche verfluchte, den moslemischen
Pöbel gegen dieselben und die protestantischen Missionäre auf-
hetzte und so zu Blutscenen Anlaß gab, die erst durch das Ein-
schreiten der -- persischen Regierung ihr Ende fanden.

Nach diesen wenig erfreulichen Resultaten griff man eng-
lischerseits zu anderen Mitteln, und zwar zu solchen handels-
politischer Natur. Die Schlachtfelder in Armenien waren von
dem vergossenen Blute (1829) kaum erst trocken geworden, als
die brittische Regierung mehrere Expeditionen mit handelspolitischen
Missionen nach den Ländern des Eufrat und Tigris entsandte.
Oberst Chesney wandte sich dem Eufrat zu, Ainsworth dem
Tigris. Der im Grunde doch nur höchst problematischen Frage
der Beschiffung des Eufrat mit Dampfern, wie sie der englische
Oberst aufwarf, folgte bald dessen, rein nur akademischen Werth
beanspruchendes Project einer directen Schienenverbindung des
syrischen Gestades mit dem Persischen Golfe durch eine dem
Eufrat-Thale entlang laufende Bahnlinie. Die Projecte an sich
waren aber nicht das Schwerwiegende an der Frage, sondern
die damit verbundene handelspolitische Tendenz, den persisch-kur-
dischen Export, welchen die Russen mit viel Umsicht und Energie
in der kürzesten Zeit an sich zu reißen wußten, über den Per-
sischen Golf abzulenken. Seit vierzig Jahren nun macht Eng-
land in dieser Richtung ganz außerordentliche Anstrengungen,
und man kann sagen, daß es an der Themse keine politische oder
national-ökonomische Capacität gibt, die sich mit dieser Frage
nicht eingehend beschäftigt und sie als mit den vitalsten Interessen
des Inselreiches gleichbedeutend erachtet hätte. Alle Projecte,
welche sich mit einer Paralysirung der russischen commerziellen
Präponderanz in Vorder-Asien beschäftigen, sind derart angelegt,
daß sie die Wechselwirkung zwischen dem Emporium Constan-
tinopel und dem Persischen Golfe in irgend einer Art zum Aus-
drucke bringen.

Sehr eingehend hat sich neuerdings ein Parlamentsausschuß
mit dieser Frage befaßt, der im Jahre 1872 die Angelegenheit

Rußland und England in Vorder-Aſien.
laſſung hatte …“ Das war der ſeinerzeitige Repräſentant des
engliſchen Einfluſſes in Kurdiſtan; er hatte es auch dahin ge-
bracht, daß der nach Perſien (Urumia) exilirte Neſtorianer-Pa-
triarch Mar Schimun alle neſtorianiſchen Anhänger der ameri-
kaniſchen (nicht biſchöflichen) Kirche verfluchte, den moslemiſchen
Pöbel gegen dieſelben und die proteſtantiſchen Miſſionäre auf-
hetzte und ſo zu Blutſcenen Anlaß gab, die erſt durch das Ein-
ſchreiten der — perſiſchen Regierung ihr Ende fanden.

Nach dieſen wenig erfreulichen Reſultaten griff man eng-
liſcherſeits zu anderen Mitteln, und zwar zu ſolchen handels-
politiſcher Natur. Die Schlachtfelder in Armenien waren von
dem vergoſſenen Blute (1829) kaum erſt trocken geworden, als
die brittiſche Regierung mehrere Expeditionen mit handelspolitiſchen
Miſſionen nach den Ländern des Eufrat und Tigris entſandte.
Oberſt Chesney wandte ſich dem Eufrat zu, Ainsworth dem
Tigris. Der im Grunde doch nur höchſt problematiſchen Frage
der Beſchiffung des Eufrat mit Dampfern, wie ſie der engliſche
Oberſt aufwarf, folgte bald deſſen, rein nur akademiſchen Werth
beanſpruchendes Project einer directen Schienenverbindung des
ſyriſchen Geſtades mit dem Perſiſchen Golfe durch eine dem
Eufrat-Thale entlang laufende Bahnlinie. Die Projecte an ſich
waren aber nicht das Schwerwiegende an der Frage, ſondern
die damit verbundene handelspolitiſche Tendenz, den perſiſch-kur-
diſchen Export, welchen die Ruſſen mit viel Umſicht und Energie
in der kürzeſten Zeit an ſich zu reißen wußten, über den Per-
ſiſchen Golf abzulenken. Seit vierzig Jahren nun macht Eng-
land in dieſer Richtung ganz außerordentliche Anſtrengungen,
und man kann ſagen, daß es an der Themſe keine politiſche oder
national-ökonomiſche Capacität gibt, die ſich mit dieſer Frage
nicht eingehend beſchäftigt und ſie als mit den vitalſten Intereſſen
des Inſelreiches gleichbedeutend erachtet hätte. Alle Projecte,
welche ſich mit einer Paralyſirung der ruſſiſchen commerziellen
Präponderanz in Vorder-Aſien beſchäftigen, ſind derart angelegt,
daß ſie die Wechſelwirkung zwiſchen dem Emporium Conſtan-
tinopel und dem Perſiſchen Golfe in irgend einer Art zum Aus-
drucke bringen.

Sehr eingehend hat ſich neuerdings ein Parlamentsausſchuß
mit dieſer Frage befaßt, der im Jahre 1872 die Angelegenheit

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[XIII/0017] Rußland und England in Vorder-Aſien. laſſung hatte …“ Das war der ſeinerzeitige Repräſentant des engliſchen Einfluſſes in Kurdiſtan; er hatte es auch dahin ge- bracht, daß der nach Perſien (Urumia) exilirte Neſtorianer-Pa- triarch Mar Schimun alle neſtorianiſchen Anhänger der ameri- kaniſchen (nicht biſchöflichen) Kirche verfluchte, den moslemiſchen Pöbel gegen dieſelben und die proteſtantiſchen Miſſionäre auf- hetzte und ſo zu Blutſcenen Anlaß gab, die erſt durch das Ein- ſchreiten der — perſiſchen Regierung ihr Ende fanden. Nach dieſen wenig erfreulichen Reſultaten griff man eng- liſcherſeits zu anderen Mitteln, und zwar zu ſolchen handels- politiſcher Natur. Die Schlachtfelder in Armenien waren von dem vergoſſenen Blute (1829) kaum erſt trocken geworden, als die brittiſche Regierung mehrere Expeditionen mit handelspolitiſchen Miſſionen nach den Ländern des Eufrat und Tigris entſandte. Oberſt Chesney wandte ſich dem Eufrat zu, Ainsworth dem Tigris. Der im Grunde doch nur höchſt problematiſchen Frage der Beſchiffung des Eufrat mit Dampfern, wie ſie der engliſche Oberſt aufwarf, folgte bald deſſen, rein nur akademiſchen Werth beanſpruchendes Project einer directen Schienenverbindung des ſyriſchen Geſtades mit dem Perſiſchen Golfe durch eine dem Eufrat-Thale entlang laufende Bahnlinie. Die Projecte an ſich waren aber nicht das Schwerwiegende an der Frage, ſondern die damit verbundene handelspolitiſche Tendenz, den perſiſch-kur- diſchen Export, welchen die Ruſſen mit viel Umſicht und Energie in der kürzeſten Zeit an ſich zu reißen wußten, über den Per- ſiſchen Golf abzulenken. Seit vierzig Jahren nun macht Eng- land in dieſer Richtung ganz außerordentliche Anſtrengungen, und man kann ſagen, daß es an der Themſe keine politiſche oder national-ökonomiſche Capacität gibt, die ſich mit dieſer Frage nicht eingehend beſchäftigt und ſie als mit den vitalſten Intereſſen des Inſelreiches gleichbedeutend erachtet hätte. Alle Projecte, welche ſich mit einer Paralyſirung der ruſſiſchen commerziellen Präponderanz in Vorder-Aſien beſchäftigen, ſind derart angelegt, daß ſie die Wechſelwirkung zwiſchen dem Emporium Conſtan- tinopel und dem Perſiſchen Golfe in irgend einer Art zum Aus- drucke bringen. Sehr eingehend hat ſich neuerdings ein Parlamentsausſchuß mit dieſer Frage befaßt, der im Jahre 1872 die Angelegenheit

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Zitationshilfe: Schweiger-Lerchenfeld, Amand von: Armenien. Ein Bild seiner Natur und seiner Bewohner. Jena, 1878, S. XIII. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schweiger_armenien_1878/17>, abgerufen am 24.04.2024.