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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838.

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sie bat sich das schöne Thier von ihrem Gemahl zum
Geschenke aus. Was sollte der betrogene Betrüger ma¬
chen? Giebt er die Kuh her, so wird er seiner Geliebten
verlustig; verweigert er sie, so erregt er erst recht den
Verdacht seiner Gemahlin, welche der Unglücklichen dann
rasches Verderben senden wird! So entschloß er sich denn,
für den Augenblick auf die Jungfrau zu verzichten, und
schenkte die schimmernde Kuh, die er noch immer für un¬
entdeckt hielt, seiner Gemahlin. Juno knüpfte, scheinbar
beglückt durch die Gabe, dem schönen Thier ein Band um
den Hals, und führte die Unselige, der ein verzweifelndes
Menschenherz unter der Thiergestalt schlug, im Triumphe da¬
von. Doch machte der Gattin dieser Diebstahl selbst Angst und
sie ruhte nicht, bis sie ihre Nebenbuhlerin der sichersten
Hut überantwortet hatte. Daher suchte sie den Argus,
den Sohn des Arestor, auf, ein Ungethüm, das ihr zu
diesem Dienste besonders geeignet schien. Denn Argus
hatte hundert Augen im Kopfe, von denen nur ein Paar
abwechslungsweise sich schloß und der Ruhe ergab, wäh¬
rend die übrigen alle, über Vorder- und Hinterhaupt wie
funkelnde Sterne zerstreut, auf ihrem Posten ausharrten.
Diesen gab Juno der armen Io zum Wächter, damit ihr
Gemahl Jupiter die entrissene Geliebte nicht entführen
könne. Unter seinen hundert Augen durfte Io, die Kuh,
des Tages über auf einer fetten Trist weiden; Argus
aber stand in der Nähe und wo er sich immer hinstellen
mochte, erblickte er die ihm anvertraute; auch wenn er
sich abwandte, und ihr das Hinterhaupt zukehrte, hatte
er Io vor Augen. Wenn aber die Sonne untergegangen
war, schloß er sie ein, und belastete den Hals der un¬
glückseligen mit Ketten; bittre Kräuter und Baumlaub

ſie bat ſich das ſchöne Thier von ihrem Gemahl zum
Geſchenke aus. Was ſollte der betrogene Betrüger ma¬
chen? Giebt er die Kuh her, ſo wird er ſeiner Geliebten
verluſtig; verweigert er ſie, ſo erregt er erſt recht den
Verdacht ſeiner Gemahlin, welche der Unglücklichen dann
raſches Verderben ſenden wird! So entſchloß er ſich denn,
für den Augenblick auf die Jungfrau zu verzichten, und
ſchenkte die ſchimmernde Kuh, die er noch immer für un¬
entdeckt hielt, ſeiner Gemahlin. Juno knüpfte, ſcheinbar
beglückt durch die Gabe, dem ſchönen Thier ein Band um
den Hals, und führte die Unſelige, der ein verzweifelndes
Menſchenherz unter der Thiergeſtalt ſchlug, im Triumphe da¬
von. Doch machte der Gattin dieſer Diebſtahl ſelbſt Angſt und
ſie ruhte nicht, bis ſie ihre Nebenbuhlerin der ſicherſten
Hut überantwortet hatte. Daher ſuchte ſie den Argus,
den Sohn des Areſtor, auf, ein Ungethüm, das ihr zu
dieſem Dienſte beſonders geeignet ſchien. Denn Argus
hatte hundert Augen im Kopfe, von denen nur ein Paar
abwechslungsweiſe ſich ſchloß und der Ruhe ergab, wäh¬
rend die übrigen alle, über Vorder- und Hinterhaupt wie
funkelnde Sterne zerſtreut, auf ihrem Poſten ausharrten.
Dieſen gab Juno der armen Io zum Wächter, damit ihr
Gemahl Jupiter die entriſſene Geliebte nicht entführen
könne. Unter ſeinen hundert Augen durfte Io, die Kuh,
des Tages über auf einer fetten Triſt weiden; Argus
aber ſtand in der Nähe und wo er ſich immer hinſtellen
mochte, erblickte er die ihm anvertraute; auch wenn er
ſich abwandte, und ihr das Hinterhaupt zukehrte, hatte
er Io vor Augen. Wenn aber die Sonne untergegangen
war, ſchloß er ſie ein, und belaſtete den Hals der un¬
glückſeligen mit Ketten; bittre Kräuter und Baumlaub

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[22/0048] ſie bat ſich das ſchöne Thier von ihrem Gemahl zum Geſchenke aus. Was ſollte der betrogene Betrüger ma¬ chen? Giebt er die Kuh her, ſo wird er ſeiner Geliebten verluſtig; verweigert er ſie, ſo erregt er erſt recht den Verdacht ſeiner Gemahlin, welche der Unglücklichen dann raſches Verderben ſenden wird! So entſchloß er ſich denn, für den Augenblick auf die Jungfrau zu verzichten, und ſchenkte die ſchimmernde Kuh, die er noch immer für un¬ entdeckt hielt, ſeiner Gemahlin. Juno knüpfte, ſcheinbar beglückt durch die Gabe, dem ſchönen Thier ein Band um den Hals, und führte die Unſelige, der ein verzweifelndes Menſchenherz unter der Thiergeſtalt ſchlug, im Triumphe da¬ von. Doch machte der Gattin dieſer Diebſtahl ſelbſt Angſt und ſie ruhte nicht, bis ſie ihre Nebenbuhlerin der ſicherſten Hut überantwortet hatte. Daher ſuchte ſie den Argus, den Sohn des Areſtor, auf, ein Ungethüm, das ihr zu dieſem Dienſte beſonders geeignet ſchien. Denn Argus hatte hundert Augen im Kopfe, von denen nur ein Paar abwechslungsweiſe ſich ſchloß und der Ruhe ergab, wäh¬ rend die übrigen alle, über Vorder- und Hinterhaupt wie funkelnde Sterne zerſtreut, auf ihrem Poſten ausharrten. Dieſen gab Juno der armen Io zum Wächter, damit ihr Gemahl Jupiter die entriſſene Geliebte nicht entführen könne. Unter ſeinen hundert Augen durfte Io, die Kuh, des Tages über auf einer fetten Triſt weiden; Argus aber ſtand in der Nähe und wo er ſich immer hinſtellen mochte, erblickte er die ihm anvertraute; auch wenn er ſich abwandte, und ihr das Hinterhaupt zukehrte, hatte er Io vor Augen. Wenn aber die Sonne untergegangen war, ſchloß er ſie ein, und belaſtete den Hals der un¬ glückſeligen mit Ketten; bittre Kräuter und Baumlaub

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838, S. 22. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/48>, abgerufen am 19.04.2024.