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Schuchardt, Hugo: Ueber die Lautgesetze. Gegen die Junggrammatiker. Berlin, 1885.

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irgend welche Abweichung von einem anerkannten
Lautgesetz zu verzeichnen und über die Ursache dieser
Abweichung lieber zu schweigen als eine schlecht-
begründete Vermuthung auszusprechen. Diejenigen
Fehler gegen welche die Junggrammatiker so laut
ihre Stimme erhoben haben, sind entweder längst
überwundene, oder es sind Rückfälle von denen keine
Wissenschaft frei ist und die wegen so mancher prak-
tischen Verstösse der Junggrammatiker gegen ihre
eigene Theorie gerade bei ihnen Entschuldigung ver-
dienten, oder es sind überhaupt keine Fehler. Mir
hingegen erscheint die Lehre von der Ausnahmslosig-
keit der Lautgesetze als ein Hinderniss für die Wissen-
schaft sich im Sinne des Causalitätsgesetzes fortzuent-
wickeln. Die Lautgesetze werden in eine solche Höhe
gehoben dass das Bedürfniss über sie hinauszudringen ein
weit geringeres ist als wenn sie nur den Werth grosser
Regelmässigkeiten besitzen. Und doch sind sie jedenfalls
nur empirische Gesetze, und, wie auch Wundt betont, muss
ihre Umwandelung in causale vollzogen werden. Ist es
aber nicht eine merkwürdige Inconsequenz der Jung-
grammatiker dass sie davon absehen die Lautgesetze
selbst zu begreifen, jedoch die Ausnahmen durchaus be-
griffen haben wollen? Und dass sie diese grossentheils
in den Wirkungen begrifflicher Associationen suchen,
und dabei andere Factoren, wie die Sprachmischung,
vernachlässigen? Besonders gefährlich erscheint mir
das mit Bezug auf romanische Mundarten wie sie in
mittelalterlichen Handschriften überliefert sind. Kurz,
die Aufstellung des junggrammatischen Princips be-
deutet für mich keinen Umschwung in der Geschichte
der Sprachwissenschaft, mit dem sie sicherer und
rascher fortzuschreiten begonnen hätte; und ich denke

Schuchardt, Ueber die Lautgesetze. 3

irgend welche Abweichung von einem anerkannten
Lautgesetz zu verzeichnen und über die Ursache dieser
Abweichung lieber zu schweigen als eine schlecht-
begründete Vermuthung auszusprechen. Diejenigen
Fehler gegen welche die Junggrammatiker so laut
ihre Stimme erhoben haben, sind entweder längst
überwundene, oder es sind Rückfälle von denen keine
Wissenschaft frei ist und die wegen so mancher prak-
tischen Verstösse der Junggrammatiker gegen ihre
eigene Theorie gerade bei ihnen Entschuldigung ver-
dienten, oder es sind überhaupt keine Fehler. Mir
hingegen erscheint die Lehre von der Ausnahmslosig-
keit der Lautgesetze als ein Hinderniss für die Wissen-
schaft sich im Sinne des Causalitätsgesetzes fortzuent-
wickeln. Die Lautgesetze werden in eine solche Höhe
gehoben dass das Bedürfniss über sie hinauszudringen ein
weit geringeres ist als wenn sie nur den Werth grosser
Regelmässigkeiten besitzen. Und doch sind sie jedenfalls
nur empirische Gesetze, und, wie auch Wundt betont, muss
ihre Umwandelung in causale vollzogen werden. Ist es
aber nicht eine merkwürdige Inconsequenz der Jung-
grammatiker dass sie davon absehen die Lautgesetze
selbst zu begreifen, jedoch die Ausnahmen durchaus be-
griffen haben wollen? Und dass sie diese grossentheils
in den Wirkungen begrifflicher Associationen suchen,
und dabei andere Factoren, wie die Sprachmischung,
vernachlässigen? Besonders gefährlich erscheint mir
das mit Bezug auf romanische Mundarten wie sie in
mittelalterlichen Handschriften überliefert sind. Kurz,
die Aufstellung des junggrammatischen Princips be-
deutet für mich keinen Umschwung in der Geschichte
der Sprachwissenschaft, mit dem sie sicherer und
rascher fortzuschreiten begonnen hätte; und ich denke

Schuchardt, Ueber die Lautgesetze. 3
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[33/0045] irgend welche Abweichung von einem anerkannten Lautgesetz zu verzeichnen und über die Ursache dieser Abweichung lieber zu schweigen als eine schlecht- begründete Vermuthung auszusprechen. Diejenigen Fehler gegen welche die Junggrammatiker so laut ihre Stimme erhoben haben, sind entweder längst überwundene, oder es sind Rückfälle von denen keine Wissenschaft frei ist und die wegen so mancher prak- tischen Verstösse der Junggrammatiker gegen ihre eigene Theorie gerade bei ihnen Entschuldigung ver- dienten, oder es sind überhaupt keine Fehler. Mir hingegen erscheint die Lehre von der Ausnahmslosig- keit der Lautgesetze als ein Hinderniss für die Wissen- schaft sich im Sinne des Causalitätsgesetzes fortzuent- wickeln. Die Lautgesetze werden in eine solche Höhe gehoben dass das Bedürfniss über sie hinauszudringen ein weit geringeres ist als wenn sie nur den Werth grosser Regelmässigkeiten besitzen. Und doch sind sie jedenfalls nur empirische Gesetze, und, wie auch Wundt betont, muss ihre Umwandelung in causale vollzogen werden. Ist es aber nicht eine merkwürdige Inconsequenz der Jung- grammatiker dass sie davon absehen die Lautgesetze selbst zu begreifen, jedoch die Ausnahmen durchaus be- griffen haben wollen? Und dass sie diese grossentheils in den Wirkungen begrifflicher Associationen suchen, und dabei andere Factoren, wie die Sprachmischung, vernachlässigen? Besonders gefährlich erscheint mir das mit Bezug auf romanische Mundarten wie sie in mittelalterlichen Handschriften überliefert sind. Kurz, die Aufstellung des junggrammatischen Princips be- deutet für mich keinen Umschwung in der Geschichte der Sprachwissenschaft, mit dem sie sicherer und rascher fortzuschreiten begonnen hätte; und ich denke Schuchardt, Ueber die Lautgesetze. 3

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Zitationshilfe: Schuchardt, Hugo: Ueber die Lautgesetze. Gegen die Junggrammatiker. Berlin, 1885, S. 33. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schuchardt_lautgesetze_1885/45>, abgerufen am 19.04.2024.