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Schubert, Gotthilf Heinrich: Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaft. Dresden, 1808.

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Man gab hierbey vor, der Erfahrung gefolgt zu
seyn, welche uns den Urzustand des Menschen in je-
nen sogenannten wilden Völkern vorbildete, die abge-
sondert von andern gebildeteren, wie Kinder, noch zu
den Füßen der Cultur säßen. Der Mangel und ein
tägliches Bedürfniß; die Furcht, welche einem von
der Natur unbewaffnet und unbekleidet gelassenen We-
sen vor andern eigenthümlich gewesen sey, das freund-
liche oder feindliche Zusammentreffen der verschiedenen
Individuen und Familien, hätten zuletzt Gewerbe,
Religion, Cultus, Sitten und andre höchste Vorrech-
te unsrer Natur erzeugt. Aber eben dieser Meynung,
die sich so sehr auf Erfahrung beruft, wird von aller
Erfahrung am meisten widersprochen, und schon der
erste Blick auf die heilige Sage aller besseren Völker,
welche warrlich auf etwas Tieferen und Unvergängli-
cheren beruht, als daß sie die Schlüsse eines ausschwei-
fenden Verstandes erreichen möchten; auf die Werke
der Dichter, deren Begeistrung nicht ohne Grund die
Offenbarung des Wahren, und die Gabe des Sehens
genannt wird, und aller ins Tiefe gehenden Geschichts-
forscher der älteren Zeit, so wie auf eine Menge histo-
rischer Denkmähler, widerlegt sie.

Wenn Religion, ein Erzeugniß der Furcht, aus
rohem Anfange entstanden, wie kommt es denn, daß
die Religionen, je älter sie sind, desto reinere und er-
habnere Ansichten enthalten? wie man z. B. von der Re-
ligion der Indier seit einiger Zeit zugestehen müssen, sie

Man gab hierbey vor, der Erfahrung gefolgt zu
ſeyn, welche uns den Urzuſtand des Menſchen in je-
nen ſogenannten wilden Voͤlkern vorbildete, die abge-
ſondert von andern gebildeteren, wie Kinder, noch zu
den Fuͤßen der Cultur ſaͤßen. Der Mangel und ein
taͤgliches Beduͤrfniß; die Furcht, welche einem von
der Natur unbewaffnet und unbekleidet gelaſſenen We-
ſen vor andern eigenthuͤmlich geweſen ſey, das freund-
liche oder feindliche Zuſammentreffen der verſchiedenen
Individuen und Familien, haͤtten zuletzt Gewerbe,
Religion, Cultus, Sitten und andre hoͤchſte Vorrech-
te unſrer Natur erzeugt. Aber eben dieſer Meynung,
die ſich ſo ſehr auf Erfahrung beruft, wird von aller
Erfahrung am meiſten widerſprochen, und ſchon der
erſte Blick auf die heilige Sage aller beſſeren Voͤlker,
welche warrlich auf etwas Tieferen und Unvergaͤngli-
cheren beruht, als daß ſie die Schluͤſſe eines ausſchwei-
fenden Verſtandes erreichen moͤchten; auf die Werke
der Dichter, deren Begeiſtrung nicht ohne Grund die
Offenbarung des Wahren, und die Gabe des Sehens
genannt wird, und aller ins Tiefe gehenden Geſchichts-
forſcher der aͤlteren Zeit, ſo wie auf eine Menge hiſto-
riſcher Denkmaͤhler, widerlegt ſie.

Wenn Religion, ein Erzeugniß der Furcht, aus
rohem Anfange entſtanden, wie kommt es denn, daß
die Religionen, je aͤlter ſie ſind, deſto reinere und er-
habnere Anſichten enthalten? wie man z. B. von der Re-
ligion der Indier ſeit einiger Zeit zugeſtehen muͤſſen, ſie

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[25/0039] Man gab hierbey vor, der Erfahrung gefolgt zu ſeyn, welche uns den Urzuſtand des Menſchen in je- nen ſogenannten wilden Voͤlkern vorbildete, die abge- ſondert von andern gebildeteren, wie Kinder, noch zu den Fuͤßen der Cultur ſaͤßen. Der Mangel und ein taͤgliches Beduͤrfniß; die Furcht, welche einem von der Natur unbewaffnet und unbekleidet gelaſſenen We- ſen vor andern eigenthuͤmlich geweſen ſey, das freund- liche oder feindliche Zuſammentreffen der verſchiedenen Individuen und Familien, haͤtten zuletzt Gewerbe, Religion, Cultus, Sitten und andre hoͤchſte Vorrech- te unſrer Natur erzeugt. Aber eben dieſer Meynung, die ſich ſo ſehr auf Erfahrung beruft, wird von aller Erfahrung am meiſten widerſprochen, und ſchon der erſte Blick auf die heilige Sage aller beſſeren Voͤlker, welche warrlich auf etwas Tieferen und Unvergaͤngli- cheren beruht, als daß ſie die Schluͤſſe eines ausſchwei- fenden Verſtandes erreichen moͤchten; auf die Werke der Dichter, deren Begeiſtrung nicht ohne Grund die Offenbarung des Wahren, und die Gabe des Sehens genannt wird, und aller ins Tiefe gehenden Geſchichts- forſcher der aͤlteren Zeit, ſo wie auf eine Menge hiſto- riſcher Denkmaͤhler, widerlegt ſie. Wenn Religion, ein Erzeugniß der Furcht, aus rohem Anfange entſtanden, wie kommt es denn, daß die Religionen, je aͤlter ſie ſind, deſto reinere und er- habnere Anſichten enthalten? wie man z. B. von der Re- ligion der Indier ſeit einiger Zeit zugeſtehen muͤſſen, ſie

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Zitationshilfe: Schubert, Gotthilf Heinrich: Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaft. Dresden, 1808, S. 25. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schubert_naturwissenschaft_1808/39>, abgerufen am 29.03.2024.