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Schreyvogel, Joseph: Samuel Brinks letzte Liebesgeschichte. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 10. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–94. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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der Hauptstadt unterbringen wollen. In dieser Absicht habe die Tante vor vierzehn Tagen mit ihr die Reise nach der Residenz angetreten, sei aber auf halbem Wege in eine gefährliche Krankheit verfallen und in dem nahen Landstädtchen, wo sie liegen geblieben, am siebenten Tage gestorben.

Ein Strom von Thränen unterbrach hier Gretchens Erzählung. Sie verbarg das Gesicht an der Seite des Wagens und weinte eine Zeitlang heftig. Verzeihen Sie, mein Herr! sagte sie dann; ich besitze die Kunst noch nicht, mich vor Fremden gehörig zu benehmen. Wiewohl eine vater- und mutterlose Waise, fand ich doch in dem Hause meiner Tante die mütterliche Nachsicht und Zärtlichkeit wieder; ich durfte weinen und mich laut freuen: -- unter fremden Menschen, weiß ich wohl, schickt sich das nicht. -- Was ein so gutgeartetes Geschöpf empfindet, sagte ich, indem ich Gretchens Hand ergriff, darf es auch äußern. Und bin ich Ihnen denn fremd, liebes Kind? Mir sind Sie es nicht mehr.-- Mein Ton oder meine Worte mußten Gretchens Herz getroffen haben, denn sie sah mir mit ihren großen blauen Augen so mild und vertrauensvoll ins Gesicht, daß ich versucht war, das holde, hülfebedürfende Wesen an meine Brust zu drücken. Aber ich bezwang mich, indem ich sie fragte, warum sie nach dem Unglücke, das ihr begegnet, nicht in ihre Heimath zurückgekehrt sei, wo sie doch noch einige Bekannte haben müsse? -- Keine, die etwas für mich thun könnten oder wollten, erwiderte Gretchen. Die

der Hauptstadt unterbringen wollen. In dieser Absicht habe die Tante vor vierzehn Tagen mit ihr die Reise nach der Residenz angetreten, sei aber auf halbem Wege in eine gefährliche Krankheit verfallen und in dem nahen Landstädtchen, wo sie liegen geblieben, am siebenten Tage gestorben.

Ein Strom von Thränen unterbrach hier Gretchens Erzählung. Sie verbarg das Gesicht an der Seite des Wagens und weinte eine Zeitlang heftig. Verzeihen Sie, mein Herr! sagte sie dann; ich besitze die Kunst noch nicht, mich vor Fremden gehörig zu benehmen. Wiewohl eine vater- und mutterlose Waise, fand ich doch in dem Hause meiner Tante die mütterliche Nachsicht und Zärtlichkeit wieder; ich durfte weinen und mich laut freuen: — unter fremden Menschen, weiß ich wohl, schickt sich das nicht. — Was ein so gutgeartetes Geschöpf empfindet, sagte ich, indem ich Gretchens Hand ergriff, darf es auch äußern. Und bin ich Ihnen denn fremd, liebes Kind? Mir sind Sie es nicht mehr.— Mein Ton oder meine Worte mußten Gretchens Herz getroffen haben, denn sie sah mir mit ihren großen blauen Augen so mild und vertrauensvoll ins Gesicht, daß ich versucht war, das holde, hülfebedürfende Wesen an meine Brust zu drücken. Aber ich bezwang mich, indem ich sie fragte, warum sie nach dem Unglücke, das ihr begegnet, nicht in ihre Heimath zurückgekehrt sei, wo sie doch noch einige Bekannte haben müsse? — Keine, die etwas für mich thun könnten oder wollten, erwiderte Gretchen. Die

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[0014] der Hauptstadt unterbringen wollen. In dieser Absicht habe die Tante vor vierzehn Tagen mit ihr die Reise nach der Residenz angetreten, sei aber auf halbem Wege in eine gefährliche Krankheit verfallen und in dem nahen Landstädtchen, wo sie liegen geblieben, am siebenten Tage gestorben. Ein Strom von Thränen unterbrach hier Gretchens Erzählung. Sie verbarg das Gesicht an der Seite des Wagens und weinte eine Zeitlang heftig. Verzeihen Sie, mein Herr! sagte sie dann; ich besitze die Kunst noch nicht, mich vor Fremden gehörig zu benehmen. Wiewohl eine vater- und mutterlose Waise, fand ich doch in dem Hause meiner Tante die mütterliche Nachsicht und Zärtlichkeit wieder; ich durfte weinen und mich laut freuen: — unter fremden Menschen, weiß ich wohl, schickt sich das nicht. — Was ein so gutgeartetes Geschöpf empfindet, sagte ich, indem ich Gretchens Hand ergriff, darf es auch äußern. Und bin ich Ihnen denn fremd, liebes Kind? Mir sind Sie es nicht mehr.— Mein Ton oder meine Worte mußten Gretchens Herz getroffen haben, denn sie sah mir mit ihren großen blauen Augen so mild und vertrauensvoll ins Gesicht, daß ich versucht war, das holde, hülfebedürfende Wesen an meine Brust zu drücken. Aber ich bezwang mich, indem ich sie fragte, warum sie nach dem Unglücke, das ihr begegnet, nicht in ihre Heimath zurückgekehrt sei, wo sie doch noch einige Bekannte haben müsse? — Keine, die etwas für mich thun könnten oder wollten, erwiderte Gretchen. Die

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Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-16T11:30:04Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-16T11:30:04Z)

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Zitationshilfe: Schreyvogel, Joseph: Samuel Brinks letzte Liebesgeschichte. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 10. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–94. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schreyvogel_liebesgeschichte_1910/14>, abgerufen am 29.03.2024.