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Schreber, Daniel Gottlob Moritz: Kallipädie oder Erziehung zur Schönheit. Leipzig, 1858.

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Vorwort.


Unter den hochwichtigen Lebensfragen der Menschheit
steht die Erziehung der aufwachsenden Generationen oben an.

Jeder Mensch hat zwar eine gewisse angeborene Eigen-
thümlichkeit, die seiner körperlichen und geistigen Entwicke-
lung mehr oder weniger das individuelle Gepräge gibt. So-
dann ist auch den gelegentlichen und unberechneten Einflüs-
sen des Lebens auf den einzelnen Menschen eine nicht unbe-
deutende miterziehende Einwirkung zuzuerkennen. Dessenun-
geachtet aber ist die Erziehung im engeren und eigentlichen
Sinne, d. h. die gesammte den Menschen mögliche planmässig
heraufbildende Einwirkung auf das Kind, offenbar die Haupt-
grundlage der künftigen körperlichen und geistigen Beschaffen-
heit. Selbst sehr mangelhafte Naturmitgabe ist oft in staunen-
erregender Weise ausgleichbar durch wohlberechnete Erzie-
hung, wovon die augenfälligsten maassgebenden Beispiele in
den immer höher steigenden Resultaten der Erziehungsanstal-
ten für Taubstumme, Blinde, Blödsinnige, Cretinen, sittlich
verwahrloste Kinder u. s. w. zu erblicken sind. Die glück-
lichste Naturmitgabe ist aber der Verkümmerung preisgege-
ben, wenn die erziehende Entwickelung derselben fehlt.

Jenes, so zu sagen, naturwüchsige Gepräge der Ausbil-
dung wird zwar nie ganz verwischbar sein (es sollen ihm ja
auch seine edlen Eigenthümlichkeiten wohl erhalten und wei-
ter entwickelt werden), wird aber schwerlich jemals über
den Einfluss der Erziehung die Oberhand behaupten. Es
wird nur da in seiner reinen -- freilich dann mehr oder we-
niger rohen und mangelhaften -- Eigenthümlichkeit hervor-

Vorwort.


Unter den hochwichtigen Lebensfragen der Menschheit
steht die Erziehung der aufwachsenden Generationen oben an.

Jeder Mensch hat zwar eine gewisse angeborene Eigen-
thümlichkeit, die seiner körperlichen und geistigen Entwicke-
lung mehr oder weniger das individuelle Gepräge gibt. So-
dann ist auch den gelegentlichen und unberechneten Einflüs-
sen des Lebens auf den einzelnen Menschen eine nicht unbe-
deutende miterziehende Einwirkung zuzuerkennen. Dessenun-
geachtet aber ist die Erziehung im engeren und eigentlichen
Sinne, d. h. die gesammte den Menschen mögliche planmässig
heraufbildende Einwirkung auf das Kind, offenbar die Haupt-
grundlage der künftigen körperlichen und geistigen Beschaffen-
heit. Selbst sehr mangelhafte Naturmitgabe ist oft in staunen-
erregender Weise ausgleichbar durch wohlberechnete Erzie-
hung, wovon die augenfälligsten maassgebenden Beispiele in
den immer höher steigenden Resultaten der Erziehungsanstal-
ten für Taubstumme, Blinde, Blödsinnige, Cretinen, sittlich
verwahrloste Kinder u. s. w. zu erblicken sind. Die glück-
lichste Naturmitgabe ist aber der Verkümmerung preisgege-
ben, wenn die erziehende Entwickelung derselben fehlt.

Jenes, so zu sagen, naturwüchsige Gepräge der Ausbil-
dung wird zwar nie ganz verwischbar sein (es sollen ihm ja
auch seine edlen Eigenthümlichkeiten wohl erhalten und wei-
ter entwickelt werden), wird aber schwerlich jemals über
den Einfluss der Erziehung die Oberhand behaupten. Es
wird nur da in seiner reinen — freilich dann mehr oder we-
niger rohen und mangelhaften — Eigenthümlichkeit hervor-

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[[V]/0009] Vorwort. Unter den hochwichtigen Lebensfragen der Menschheit steht die Erziehung der aufwachsenden Generationen oben an. Jeder Mensch hat zwar eine gewisse angeborene Eigen- thümlichkeit, die seiner körperlichen und geistigen Entwicke- lung mehr oder weniger das individuelle Gepräge gibt. So- dann ist auch den gelegentlichen und unberechneten Einflüs- sen des Lebens auf den einzelnen Menschen eine nicht unbe- deutende miterziehende Einwirkung zuzuerkennen. Dessenun- geachtet aber ist die Erziehung im engeren und eigentlichen Sinne, d. h. die gesammte den Menschen mögliche planmässig heraufbildende Einwirkung auf das Kind, offenbar die Haupt- grundlage der künftigen körperlichen und geistigen Beschaffen- heit. Selbst sehr mangelhafte Naturmitgabe ist oft in staunen- erregender Weise ausgleichbar durch wohlberechnete Erzie- hung, wovon die augenfälligsten maassgebenden Beispiele in den immer höher steigenden Resultaten der Erziehungsanstal- ten für Taubstumme, Blinde, Blödsinnige, Cretinen, sittlich verwahrloste Kinder u. s. w. zu erblicken sind. Die glück- lichste Naturmitgabe ist aber der Verkümmerung preisgege- ben, wenn die erziehende Entwickelung derselben fehlt. Jenes, so zu sagen, naturwüchsige Gepräge der Ausbil- dung wird zwar nie ganz verwischbar sein (es sollen ihm ja auch seine edlen Eigenthümlichkeiten wohl erhalten und wei- ter entwickelt werden), wird aber schwerlich jemals über den Einfluss der Erziehung die Oberhand behaupten. Es wird nur da in seiner reinen — freilich dann mehr oder we- niger rohen und mangelhaften — Eigenthümlichkeit hervor-

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Zitationshilfe: Schreber, Daniel Gottlob Moritz: Kallipädie oder Erziehung zur Schönheit. Leipzig, 1858, S. [V]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schreber_kallipaedie_1858/9>, abgerufen am 20.04.2024.