Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schreber, Daniel Gottlob Moritz: Kallipädie oder Erziehung zur Schönheit. Leipzig, 1858.

Bild:
<< vorherige Seite

1. JAHR. KÖRPERLICHE SEITE. NAHRUNG.
sein, dass man dadurch den wirklich vorhandenen natürlichen
Bedürfnissen nicht entgegentritt.

Ein sehr gewöhnlicher Fehler der Mütter oder Wärterinnen
besteht darin, dass sie das Schreien der Säuglinge im Allgemeinen
missdeuten. Das Schreien der Kinder in den ersten Lebensmona-
ten kann allerdings Ausdruck einer Unbehaglichkeit oder eines
Schmerzes sein -- meistentheils die Folge jener Unordnung im
Darreichen der Nahrung, die als eine unmässige, Beschwerden,
und bei öfteren Wiederholungen, ernste Krankheiten veranlasst.
Es kann aber auch ebensowohl von entgegengesetzter Bedeu-
tung, nämlich die dem Säuglinge in fast keiner anderen Weise
mögliche Aeusserung des gesunden Lebenstriebes sein, die,
weil dadurch die Lungen ihre für den Fortbestand des Lebens
unentbehrliche Ausbildung erhalten sollen, als eine ganz noth-
wendige, natürliche und harmlose Lebensäusserung, oft also
nicht als Ausdruck eines Leidens, sondern vielmehr des Wohl-
befindens zu betrachten ist. Hat man sich also überzeugt,
dass nicht etwa eine Verunreinigung, irgend ein Druck u. dgl.
der Grund des Schreiens ist, so lasse man sich vor Ablauf
jener Minimalpause durch das Schreien nie zur Darreichung
der Nahrung verleiten, sondern man lasse dann ruhig das Kind
seine sich äussern wollende Lebenskraft im Schreien austummeln.
Dieses Schreien in den ersten Monaten des Lebens ist für das
Kind geradezu wohlthätig, ein wahres Bedürfniss, so lange
nämlich, als eine Aeusserung des Lebenstriebes auf andere
Weise, z. B. durch Lachen, selbständige Gliederbewegungen,
Lallen noch nicht möglich ist. Dann freilich bekommt das
Schreien, wie wir später sehen werden, eine andere Bedeutung. --
Nach erschütternden Gemüthsbewegungen der Mutter oder
Amme ist es stets rathsam, vor dem Wiederanlegen des Kindes
einen Theil der Milch abzuziehen. Leichte, vorübergehende
Unpässlichkeiten der Säugenden, so auch der Eintritt der Regel,
machen keine Unterbrechung nothwendig.

Wo überhaupt die Milch der Mutter oder einer Amme
dem Kinde geboten werden kann, da soll auch darin für die
ganze Dauer der Säuglingsperiode die alleinige Nahrung be-
stehen. Es wird dabei natürlich vorausgesetzt, dass die Be-

1. JAHR. KÖRPERLICHE SEITE. NAHRUNG.
sein, dass man dadurch den wirklich vorhandenen natürlichen
Bedürfnissen nicht entgegentritt.

Ein sehr gewöhnlicher Fehler der Mütter oder Wärterinnen
besteht darin, dass sie das Schreien der Säuglinge im Allgemeinen
missdeuten. Das Schreien der Kinder in den ersten Lebensmona-
ten kann allerdings Ausdruck einer Unbehaglichkeit oder eines
Schmerzes sein — meistentheils die Folge jener Unordnung im
Darreichen der Nahrung, die als eine unmässige, Beschwerden,
und bei öfteren Wiederholungen, ernste Krankheiten veranlasst.
Es kann aber auch ebensowohl von entgegengesetzter Bedeu-
tung, nämlich die dem Säuglinge in fast keiner anderen Weise
mögliche Aeusserung des gesunden Lebenstriebes sein, die,
weil dadurch die Lungen ihre für den Fortbestand des Lebens
unentbehrliche Ausbildung erhalten sollen, als eine ganz noth-
wendige, natürliche und harmlose Lebensäusserung, oft also
nicht als Ausdruck eines Leidens, sondern vielmehr des Wohl-
befindens zu betrachten ist. Hat man sich also überzeugt,
dass nicht etwa eine Verunreinigung, irgend ein Druck u. dgl.
der Grund des Schreiens ist, so lasse man sich vor Ablauf
jener Minimalpause durch das Schreien nie zur Darreichung
der Nahrung verleiten, sondern man lasse dann ruhig das Kind
seine sich äussern wollende Lebenskraft im Schreien austummeln.
Dieses Schreien in den ersten Monaten des Lebens ist für das
Kind geradezu wohlthätig, ein wahres Bedürfniss, so lange
nämlich, als eine Aeusserung des Lebenstriebes auf andere
Weise, z. B. durch Lachen, selbständige Gliederbewegungen,
Lallen noch nicht möglich ist. Dann freilich bekommt das
Schreien, wie wir später sehen werden, eine andere Bedeutung. —
Nach erschütternden Gemüthsbewegungen der Mutter oder
Amme ist es stets rathsam, vor dem Wiederanlegen des Kindes
einen Theil der Milch abzuziehen. Leichte, vorübergehende
Unpässlichkeiten der Säugenden, so auch der Eintritt der Regel,
machen keine Unterbrechung nothwendig.

Wo überhaupt die Milch der Mutter oder einer Amme
dem Kinde geboten werden kann, da soll auch darin für die
ganze Dauer der Säuglingsperiode die alleinige Nahrung be-
stehen. Es wird dabei natürlich vorausgesetzt, dass die Be-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0043" n="39"/><fw place="top" type="header">1. JAHR. KÖRPERLICHE SEITE. NAHRUNG.</fw><lb/>
sein, dass man dadurch den wirklich vorhandenen natürlichen<lb/>
Bedürfnissen nicht entgegentritt.</p><lb/>
            <p>Ein sehr gewöhnlicher Fehler der Mütter oder Wärterinnen<lb/>
besteht darin, dass sie das <hi rendition="#g">Schreien</hi> der Säuglinge im Allgemeinen<lb/>
missdeuten. Das Schreien der Kinder in den ersten Lebensmona-<lb/>
ten kann allerdings Ausdruck einer Unbehaglichkeit oder eines<lb/>
Schmerzes sein &#x2014; meistentheils die Folge jener Unordnung im<lb/>
Darreichen der Nahrung, die als eine unmässige, Beschwerden,<lb/>
und bei öfteren Wiederholungen, ernste Krankheiten veranlasst.<lb/>
Es kann aber auch <hi rendition="#g">ebensowohl</hi> von entgegengesetzter Bedeu-<lb/>
tung, nämlich die dem Säuglinge in fast keiner anderen Weise<lb/>
mögliche Aeusserung des gesunden Lebenstriebes sein, die,<lb/>
weil dadurch die Lungen ihre für den Fortbestand des Lebens<lb/>
unentbehrliche Ausbildung erhalten sollen, als eine ganz noth-<lb/>
wendige, natürliche und harmlose Lebensäusserung, oft also<lb/>
nicht als Ausdruck eines Leidens, sondern vielmehr des Wohl-<lb/>
befindens zu betrachten ist. Hat man sich also überzeugt,<lb/>
dass nicht etwa eine Verunreinigung, irgend ein Druck u. dgl.<lb/>
der Grund des Schreiens ist, so lasse man sich vor Ablauf<lb/>
jener Minimalpause durch das Schreien nie zur Darreichung<lb/>
der Nahrung verleiten, sondern man lasse dann ruhig das Kind<lb/>
seine sich äussern wollende Lebenskraft im Schreien austummeln.<lb/>
Dieses Schreien in den ersten Monaten des Lebens ist für das<lb/>
Kind geradezu wohlthätig, ein wahres Bedürfniss, so lange<lb/>
nämlich, als eine Aeusserung des Lebenstriebes auf andere<lb/>
Weise, z. B. durch Lachen, selbständige Gliederbewegungen,<lb/>
Lallen noch nicht möglich ist. Dann freilich bekommt das<lb/>
Schreien, wie wir später sehen werden, eine andere Bedeutung. &#x2014;<lb/>
Nach erschütternden Gemüthsbewegungen der Mutter oder<lb/>
Amme ist es stets rathsam, vor dem Wiederanlegen des Kindes<lb/>
einen Theil der Milch abzuziehen. Leichte, vorübergehende<lb/>
Unpässlichkeiten der Säugenden, so auch der Eintritt der Regel,<lb/>
machen keine Unterbrechung nothwendig.</p><lb/>
            <p>Wo überhaupt die Milch der Mutter oder einer Amme<lb/>
dem Kinde geboten werden kann, da soll auch darin für die<lb/>
ganze Dauer der Säuglingsperiode die alleinige Nahrung be-<lb/>
stehen. Es wird dabei natürlich vorausgesetzt, dass die Be-<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[39/0043] 1. JAHR. KÖRPERLICHE SEITE. NAHRUNG. sein, dass man dadurch den wirklich vorhandenen natürlichen Bedürfnissen nicht entgegentritt. Ein sehr gewöhnlicher Fehler der Mütter oder Wärterinnen besteht darin, dass sie das Schreien der Säuglinge im Allgemeinen missdeuten. Das Schreien der Kinder in den ersten Lebensmona- ten kann allerdings Ausdruck einer Unbehaglichkeit oder eines Schmerzes sein — meistentheils die Folge jener Unordnung im Darreichen der Nahrung, die als eine unmässige, Beschwerden, und bei öfteren Wiederholungen, ernste Krankheiten veranlasst. Es kann aber auch ebensowohl von entgegengesetzter Bedeu- tung, nämlich die dem Säuglinge in fast keiner anderen Weise mögliche Aeusserung des gesunden Lebenstriebes sein, die, weil dadurch die Lungen ihre für den Fortbestand des Lebens unentbehrliche Ausbildung erhalten sollen, als eine ganz noth- wendige, natürliche und harmlose Lebensäusserung, oft also nicht als Ausdruck eines Leidens, sondern vielmehr des Wohl- befindens zu betrachten ist. Hat man sich also überzeugt, dass nicht etwa eine Verunreinigung, irgend ein Druck u. dgl. der Grund des Schreiens ist, so lasse man sich vor Ablauf jener Minimalpause durch das Schreien nie zur Darreichung der Nahrung verleiten, sondern man lasse dann ruhig das Kind seine sich äussern wollende Lebenskraft im Schreien austummeln. Dieses Schreien in den ersten Monaten des Lebens ist für das Kind geradezu wohlthätig, ein wahres Bedürfniss, so lange nämlich, als eine Aeusserung des Lebenstriebes auf andere Weise, z. B. durch Lachen, selbständige Gliederbewegungen, Lallen noch nicht möglich ist. Dann freilich bekommt das Schreien, wie wir später sehen werden, eine andere Bedeutung. — Nach erschütternden Gemüthsbewegungen der Mutter oder Amme ist es stets rathsam, vor dem Wiederanlegen des Kindes einen Theil der Milch abzuziehen. Leichte, vorübergehende Unpässlichkeiten der Säugenden, so auch der Eintritt der Regel, machen keine Unterbrechung nothwendig. Wo überhaupt die Milch der Mutter oder einer Amme dem Kinde geboten werden kann, da soll auch darin für die ganze Dauer der Säuglingsperiode die alleinige Nahrung be- stehen. Es wird dabei natürlich vorausgesetzt, dass die Be-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schreber_kallipaedie_1858
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schreber_kallipaedie_1858/43
Zitationshilfe: Schreber, Daniel Gottlob Moritz: Kallipädie oder Erziehung zur Schönheit. Leipzig, 1858, S. 39. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schreber_kallipaedie_1858/43>, abgerufen am 25.04.2024.