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Schreber, Daniel Gottlob Moritz: Kallipädie oder Erziehung zur Schönheit. Leipzig, 1858.

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EINLEITUNG.
und endlich
5) Ausbildung der vollen Harmonie aller die-
ser einzelnen Seiten des Menschen unter
einander.

Die vernunft- und naturgemässe Erziehung hat aus diesen
obersten Grundsätzen alle speciellen, direct praktischen Grund-
sätze und Methoden der Erziehung folgerichtig abzuleiten und
mit denselben in organischen Zusammenhang zu bringen.

Für die Erziehungs-Methode gilt unter allen Verhält-
nissen als allgemeinster und oberster Grundsatz die umsichtigste
Individualisirung. Da die individuellen Verschiedenheiten auch
bei Kindern unendlich sind, so verlangt die Erziehung in ein-
zelnen gegebenen Fällen vor Allem genaue Kenntniss der in-
dividuellen Besonderheiten der Kinder, denen das ganze erzie-
herische Verfahren möglichst genau anzupassen ist. Wir gehen
darin am sichersten an der Hand der praktischen Regel:
insoweit als der Entwickelungsgang eines Kin-
des die volle bestimmungsgemässe Richtung
an sich schon hat, durchaus negativ uns zu
verhalten, nur auf Abhaltung von störenden
Einflüssen uns zu beschränken und der Na-
türlichkeit den freien Lauf zu lassen;
dagegen
stets und überall da einzugreifen und nach-
zuhelfen -- anregend, mässigend, umstimmend,
leitend -- wo dies der Entwickelungsgang er-
forderlich
macht; aber auch dann so weit wie mög-
lich nur auf dem Wege natürlicher Einfachheit.

Hat der Erzieher den zu erstrebenden Endzielpunkt richtig
in's Auge gefasst, so wird er mit Hilfe dieser Perspective auch
auf der ganzen Länge der Erziehungsbahn innerhalb der Grenze
des Zuviel und des Zuwenig sich zu halten wissen, wird in
einem Falle hier, in einem andern Falle da, hier mehr dort
weniger, nachzuhelfen haben, oft in sehr verschiedener, ja zu-
weilen ganz entgegengesetzter Weise.

Wir wollen nun im weiteren Laufe dieser Schrift ein all-
gemeines, dabei aber immer auf alle Verhältnisse anwendbares
Bild des Erziehungsganges zu entwerfen suchen, indem wir


EINLEITUNG.
und endlich
5) Ausbildung der vollen Harmonie aller die-
ser einzelnen Seiten des Menschen unter
einander.

Die vernunft- und naturgemässe Erziehung hat aus diesen
obersten Grundsätzen alle speciellen, direct praktischen Grund-
sätze und Methoden der Erziehung folgerichtig abzuleiten und
mit denselben in organischen Zusammenhang zu bringen.

Für die Erziehungs-Methode gilt unter allen Verhält-
nissen als allgemeinster und oberster Grundsatz die umsichtigste
Individualisirung. Da die individuellen Verschiedenheiten auch
bei Kindern unendlich sind, so verlangt die Erziehung in ein-
zelnen gegebenen Fällen vor Allem genaue Kenntniss der in-
dividuellen Besonderheiten der Kinder, denen das ganze erzie-
herische Verfahren möglichst genau anzupassen ist. Wir gehen
darin am sichersten an der Hand der praktischen Regel:
insoweit als der Entwickelungsgang eines Kin-
des die volle bestimmungsgemässe Richtung
an sich schon hat, durchaus negativ uns zu
verhalten, nur auf Abhaltung von störenden
Einflüssen uns zu beschränken und der Na-
türlichkeit den freien Lauf zu lassen;
dagegen
stets und überall da einzugreifen und nach-
zuhelfen — anregend, mässigend, umstimmend,
leitend — wo dies der Entwickelungsgang er-
forderlich
macht; aber auch dann so weit wie mög-
lich nur auf dem Wege natürlicher Einfachheit.

Hat der Erzieher den zu erstrebenden Endzielpunkt richtig
in's Auge gefasst, so wird er mit Hilfe dieser Perspective auch
auf der ganzen Länge der Erziehungsbahn innerhalb der Grenze
des Zuviel und des Zuwenig sich zu halten wissen, wird in
einem Falle hier, in einem andern Falle da, hier mehr dort
weniger, nachzuhelfen haben, oft in sehr verschiedener, ja zu-
weilen ganz entgegengesetzter Weise.

Wir wollen nun im weiteren Laufe dieser Schrift ein all-
gemeines, dabei aber immer auf alle Verhältnisse anwendbares
Bild des Erziehungsganges zu entwerfen suchen, indem wir

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[27/0031] EINLEITUNG. und endlich 5) Ausbildung der vollen Harmonie aller die- ser einzelnen Seiten des Menschen unter einander. Die vernunft- und naturgemässe Erziehung hat aus diesen obersten Grundsätzen alle speciellen, direct praktischen Grund- sätze und Methoden der Erziehung folgerichtig abzuleiten und mit denselben in organischen Zusammenhang zu bringen. Für die Erziehungs-Methode gilt unter allen Verhält- nissen als allgemeinster und oberster Grundsatz die umsichtigste Individualisirung. Da die individuellen Verschiedenheiten auch bei Kindern unendlich sind, so verlangt die Erziehung in ein- zelnen gegebenen Fällen vor Allem genaue Kenntniss der in- dividuellen Besonderheiten der Kinder, denen das ganze erzie- herische Verfahren möglichst genau anzupassen ist. Wir gehen darin am sichersten an der Hand der praktischen Regel: insoweit als der Entwickelungsgang eines Kin- des die volle bestimmungsgemässe Richtung an sich schon hat, durchaus negativ uns zu verhalten, nur auf Abhaltung von störenden Einflüssen uns zu beschränken und der Na- türlichkeit den freien Lauf zu lassen; dagegen stets und überall da einzugreifen und nach- zuhelfen — anregend, mässigend, umstimmend, leitend — wo dies der Entwickelungsgang er- forderlich macht; aber auch dann so weit wie mög- lich nur auf dem Wege natürlicher Einfachheit. Hat der Erzieher den zu erstrebenden Endzielpunkt richtig in's Auge gefasst, so wird er mit Hilfe dieser Perspective auch auf der ganzen Länge der Erziehungsbahn innerhalb der Grenze des Zuviel und des Zuwenig sich zu halten wissen, wird in einem Falle hier, in einem andern Falle da, hier mehr dort weniger, nachzuhelfen haben, oft in sehr verschiedener, ja zu- weilen ganz entgegengesetzter Weise. Wir wollen nun im weiteren Laufe dieser Schrift ein all- gemeines, dabei aber immer auf alle Verhältnisse anwendbares Bild des Erziehungsganges zu entwerfen suchen, indem wir

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Zitationshilfe: Schreber, Daniel Gottlob Moritz: Kallipädie oder Erziehung zur Schönheit. Leipzig, 1858, S. 27. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schreber_kallipaedie_1858/31>, abgerufen am 19.04.2024.