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Schreber, Daniel Gottlob Moritz: Kallipädie oder Erziehung zur Schönheit. Leipzig, 1858.

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EINLEITUNG.
Zufriedenheit, lebensfrischer Heiterkeit, muthvoller Thatkraft:
entweder moralische Stumpfheit und Schlaffheit, oder haltloses
Schwanken zwischen den Extremen der erregenden und depri-
mirenden Leidenschaften; selbstsüchtige Engherzigkeit, Kleinmuth,
Verzagtheit, Mangel an Ausdauer bei Durchführung von Ent-
schlüssen oder bei Eintritt von Widerwärtigkeiten, Prüfungen
und Gefahren; vorherrschender Hang zur Weichlichkeit und
Sinnlichkeit -- kurz Charakterlosigkeit in jeder Hinsicht. Ja,
unglaublich Viele haben den wahren hohen Zielpunkt des Lebens
-- die geistig-sittliche Veredelung, die (möglichst) freie vernünf-
tige Selbstbestimmung -- gänzlich aus den Augen verloren, sie
haben nicht einmal dafür ein Verständniss mehr. Anstatt ihr
ganzes materielles Leben dem Vernunft- und Sittengesetze
unterzuordnen und die Fesseln der tausenderlei Schwächen
der menschlichen Natur muthig zu überwinden und eine nach
der anderen abzuwerfen, bleiben sie vorsätzlich willenlose
Sklaven derselben und verlieren dadurch mit jedem Tage mehr
die Möglichkeit, zur geistigen Freiheit sich wieder aufzuringen.
Sie betrachten den sinnlichen Genuss, das materielle Leben,
überhaupt die ganze Verbindung des Menschen mit der Sinnen-
welt nicht, wie es sein soll, als das zwar mit Dank und Freude
zu benutzende, doch aber immer mit dem Hauptzwecke des
Lebens in Einklang zu bringende und ihm unterzuordnende
Mittel, nicht als Das, woran wir uns geistig läutern und
mehr und mehr emporarbeiten sollen -- in welchem Streben
allein ja der vernünftige Mensch seine wahre Befriedigung finden
kann --, sondern als das Endziel ihrer ganzen Lebensbestre-
bungen. Die wahre, über die Sinnenwelt sich erhebende und
sie beherrschende, rein menschliche Richtung erstirbt immer
mehr. Sie haben den Halt- und Schwerpunkt ihres Lebens
nicht in sich selbst. Tritt nun, wie es nothwendig im Laufe des
Lebens liegt, das Schicksal mit ernsten Prüfungen und Schlä-
gen so oder so an solche Menschen heran, so ist, eben weil
der höhere Gesichtspunkt, der innere Halt, die selbständige
höhere Geisteskraft fehlt, dumpfes, lebenvernichtendes Erstarren
oder Verzweiflung die unausbleibliche Folge. Zu einer helden-
müthigen Ergebung in das Unabänderliche können sich diese

EINLEITUNG.
Zufriedenheit, lebensfrischer Heiterkeit, muthvoller Thatkraft:
entweder moralische Stumpfheit und Schlaffheit, oder haltloses
Schwanken zwischen den Extremen der erregenden und depri-
mirenden Leidenschaften; selbstsüchtige Engherzigkeit, Kleinmuth,
Verzagtheit, Mangel an Ausdauer bei Durchführung von Ent-
schlüssen oder bei Eintritt von Widerwärtigkeiten, Prüfungen
und Gefahren; vorherrschender Hang zur Weichlichkeit und
Sinnlichkeit — kurz Charakterlosigkeit in jeder Hinsicht. Ja,
unglaublich Viele haben den wahren hohen Zielpunkt des Lebens
— die geistig-sittliche Veredelung, die (möglichst) freie vernünf-
tige Selbstbestimmung — gänzlich aus den Augen verloren, sie
haben nicht einmal dafür ein Verständniss mehr. Anstatt ihr
ganzes materielles Leben dem Vernunft- und Sittengesetze
unterzuordnen und die Fesseln der tausenderlei Schwächen
der menschlichen Natur muthig zu überwinden und eine nach
der anderen abzuwerfen, bleiben sie vorsätzlich willenlose
Sklaven derselben und verlieren dadurch mit jedem Tage mehr
die Möglichkeit, zur geistigen Freiheit sich wieder aufzuringen.
Sie betrachten den sinnlichen Genuss, das materielle Leben,
überhaupt die ganze Verbindung des Menschen mit der Sinnen-
welt nicht, wie es sein soll, als das zwar mit Dank und Freude
zu benutzende, doch aber immer mit dem Hauptzwecke des
Lebens in Einklang zu bringende und ihm unterzuordnende
Mittel, nicht als Das, woran wir uns geistig läutern und
mehr und mehr emporarbeiten sollen — in welchem Streben
allein ja der vernünftige Mensch seine wahre Befriedigung finden
kann —, sondern als das Endziel ihrer ganzen Lebensbestre-
bungen. Die wahre, über die Sinnenwelt sich erhebende und
sie beherrschende, rein menschliche Richtung erstirbt immer
mehr. Sie haben den Halt- und Schwerpunkt ihres Lebens
nicht in sich selbst. Tritt nun, wie es nothwendig im Laufe des
Lebens liegt, das Schicksal mit ernsten Prüfungen und Schlä-
gen so oder so an solche Menschen heran, so ist, eben weil
der höhere Gesichtspunkt, der innere Halt, die selbständige
höhere Geisteskraft fehlt, dumpfes, lebenvernichtendes Erstarren
oder Verzweiflung die unausbleibliche Folge. Zu einer helden-
müthigen Ergebung in das Unabänderliche können sich diese

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[20/0024] EINLEITUNG. Zufriedenheit, lebensfrischer Heiterkeit, muthvoller Thatkraft: entweder moralische Stumpfheit und Schlaffheit, oder haltloses Schwanken zwischen den Extremen der erregenden und depri- mirenden Leidenschaften; selbstsüchtige Engherzigkeit, Kleinmuth, Verzagtheit, Mangel an Ausdauer bei Durchführung von Ent- schlüssen oder bei Eintritt von Widerwärtigkeiten, Prüfungen und Gefahren; vorherrschender Hang zur Weichlichkeit und Sinnlichkeit — kurz Charakterlosigkeit in jeder Hinsicht. Ja, unglaublich Viele haben den wahren hohen Zielpunkt des Lebens — die geistig-sittliche Veredelung, die (möglichst) freie vernünf- tige Selbstbestimmung — gänzlich aus den Augen verloren, sie haben nicht einmal dafür ein Verständniss mehr. Anstatt ihr ganzes materielles Leben dem Vernunft- und Sittengesetze unterzuordnen und die Fesseln der tausenderlei Schwächen der menschlichen Natur muthig zu überwinden und eine nach der anderen abzuwerfen, bleiben sie vorsätzlich willenlose Sklaven derselben und verlieren dadurch mit jedem Tage mehr die Möglichkeit, zur geistigen Freiheit sich wieder aufzuringen. Sie betrachten den sinnlichen Genuss, das materielle Leben, überhaupt die ganze Verbindung des Menschen mit der Sinnen- welt nicht, wie es sein soll, als das zwar mit Dank und Freude zu benutzende, doch aber immer mit dem Hauptzwecke des Lebens in Einklang zu bringende und ihm unterzuordnende Mittel, nicht als Das, woran wir uns geistig läutern und mehr und mehr emporarbeiten sollen — in welchem Streben allein ja der vernünftige Mensch seine wahre Befriedigung finden kann —, sondern als das Endziel ihrer ganzen Lebensbestre- bungen. Die wahre, über die Sinnenwelt sich erhebende und sie beherrschende, rein menschliche Richtung erstirbt immer mehr. Sie haben den Halt- und Schwerpunkt ihres Lebens nicht in sich selbst. Tritt nun, wie es nothwendig im Laufe des Lebens liegt, das Schicksal mit ernsten Prüfungen und Schlä- gen so oder so an solche Menschen heran, so ist, eben weil der höhere Gesichtspunkt, der innere Halt, die selbständige höhere Geisteskraft fehlt, dumpfes, lebenvernichtendes Erstarren oder Verzweiflung die unausbleibliche Folge. Zu einer helden- müthigen Ergebung in das Unabänderliche können sich diese

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Zitationshilfe: Schreber, Daniel Gottlob Moritz: Kallipädie oder Erziehung zur Schönheit. Leipzig, 1858, S. 20. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schreber_kallipaedie_1858/24>, abgerufen am 19.04.2024.